Es ist nicht mehr da... Ganz sicher nicht... Der Gedanke war beängstigend, wie unheil verheißende Glocken hallten die Worte in ihrem Geist wieder, angstvolle Echos zurückwerfend. Heute war es wieder soweit, sie würde zu ihm müssen. Was würde ihr Onkel sagen, wenn sie an diesem Abend nicht einmal so etwas Einfaches wie ein Einkauf erledigt hatte. Reika hatte es vergessen, als sie den Brief vom Mizu erhalten hatte, ganz vergessen, dass sie die Flöte kaufen wollte. Dummes Kind... Was machst du, wenn sie nicht mehr da ist... Der Gedanke ließ sie schneller werden, bevor ein leichter Ruck an ihrem Arm, sie wieder langsamer werden ließ. Sich leicht auf die Lippen beißend, verdrängte sie die Gedanken, während sie Idoki noch immer hinter sich herzog, ihn eigentlich mehr führend als ziehend.
Wenige Minuten später standen die beiden Kinder vor dem Schaufenster und der Blick der Kunoichi flog über die darin ausgestellten Gegenstände, auf keinem länger als nötig verweilend. Nicht da... Nicht da... Wie ein Mantara hallten die unheil verheißenden Worte in ihrem Kopf wieder, sich auch auf ihrem Gesicht abzeichnend. Was sollte sie machen, wenn sie nicht fand, was sie suchte? Dieser Laden war der einzige, in dem sie sich das Objekt ihrer Begierde halbwegs leisten konnte. Ihre Lippen pressten sich zu zwei dünnen Linien zusammen, ihr Blick suchte methodisch die Auslage ab, bis ihre blauen Augen auf der dünnen, geölten Holzflöte hängen blieben. Sie ist noch da... Erleichtert ließ sie den Atem entweichen, erst jetzt merkend, dass sie ihn die ganze Zeit angehalten hatte. Ihr Blick folgte dem dünnen Holz, die einfache Maserung der vielleicht 40 cm langen Querflöte betrachtend. Sie war unscheinbar, einfach gearbeitet, keine Verzierungen schmückten die Oberfläche, sie schien scheinbar zwischen den anderen ausgestellten Schmuckstücken des Ladens zu verschwinden und doch war ihr Preis auch so beträchtlich. Beträchtlich genug, dass sie einen spürbaren Einschnitt in ihre Geldbörse machen würde. Das wissen, dass sie danach jede Münze zweimal umdrehen müsste, war da, wie der Geschmack, wenn man in eine saure Zitrone gebissen hatte, doch wurde sie von der freudigen Erwartung, die Flöte in den Händen zu halten unterdrückt. Zumindest vorerst...
„Wenn es dir nichts ausmacht und du mich nicht brauchst warte ich hier!“ Die fast schon barsch gesprochenen Worte rissen Reikas Aufmerksamkeit so perfekt von dem Objekt los, als hätte ihr der Junge eine Ohrfeige verpasst. Sie zuckte kurz zusammen, während ihr betroffener Blick Tatuharo musterte, wie er sich, mit geschlossenen Augen gegen die Wand neben dem Laden gelehnt hatte, scheinbar die Welt um sich herum nicht wahrnehmen wollend. Das kurze Lächeln half wenig, sie war zu aufgesetzt. Was? Wieso... Reika verstand nicht, wieso er so reagiert hatte. Hatte sie etwas Falsches gemacht, als sie ihn hinter sich hergezerrt hatte? Mochte er diese Straße nicht, oder mochte er es nicht, dass sie ihn einfach mitgezerrt hatte?
„Gomenasai... Es dauert wirklich nicht lange...“ Sie verbeugte sich kurz vor ihm, bevor sie sich zur Tür umdrehte, spürend, wie die Röte in ihr Gesicht steig. Doch war es nicht Wut, es war Scham, das Gefühl etwas gemacht zu haben, etwas, das Idoki irgendwie verletzt hatte, ohne zu wissen, was es war. Die Glocke über der Tür gab ein leises, melodisches Klingeln von sich, die eintretende Kunoichi begrüßend. Der Laden war dunkel, das Mädchen blieb für einige Augenblicke einfach in der Tür stehen, bis sich die Umgebung aus den dunklen Umrissen geschält hatte. Ihr Blick schweifte unentschlossen durch den Laden, bevor ihre blauen Augen auf einem bekannten Gesicht hängen blieben. Uyeda... Wenn ich mich nicht irr...
„Konnichiwa, wie kann ich ihnen behilflich sein?“ Die Worte rissen die Kunoichi aus den Gedanken und sie zuckte kurz zusammen. Leichte Verwirrung zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab, bevor sich das Mädchen zusammenriss und mit leisen Worten ihr Anliegen erklärte. Eine einladende Handbewegung später führte der Mann sie zu dem Schaufenster, die Flöte herausnehmend und es ihr reichend. Reikas spitze Finger schlossen sich vorsichtig um das fragil erscheinende Holz, das entgegen dem leicht öligen glänzen vollkommen trocken war. Aus der Nähe waren nun auch die leichten Schäden an dem Musikinstrument zu erkennen, alles, was wohl zu dem „niedrigen“ Preis geführt hatte. Jede Unruhe war aus ihr gewichen, während sie nach einem fragenden Blick zu dem Verkäufer hin und nach dessen Nicken die Flöte an die Lippen führte. Einen Atemzug später erfüllte ein leiser, auf und abschwellender Ton den Souvenirladen, während Reika die Augen schloss, sich voll und ganz auf das Instrument unter ihren Fingern konzentrierend. Ihre Finger fanden die in das Holz gebohrten Löcher wie von selbst und einen Augenblick später wurde aus dem einen Ton eine Tonfolge. Die Töne waren schnell, hoch, süß und verheißend zur gleichen Zeit. Reikas Herz schlug mit einem Male schneller, jeder Hauch von Angst schien aus ihr gewichen zu sein. Es funktioniert... Sie hatte den Gedanken nicht einmal zu Ende gedacht, als ihre Finger auch schon den delikaten Takt verloren. Ein Ton, mehr war nicht nötig, der Zauber der Flöte zerbrach, wie ein trockener Zweig und die Kunoichi ließ die Flöte von den Lippen sinken. Es funktioniert... Der Gedanke war berauschend und beängstigend zugleich. Beängstigend, da sie wusste, was jetzt kommen musste, wie man bei einem Tanz sich vor den kommenden schwierigen Schritten fürchtet, ohne aber inne halten zu können.
„Wie viel?“ Die beiden Worte waren nur geflüstert und die Antwort ließ ihre Lippen zu einem weißen Strich werden. Die Zahl war wie eine Ohrfeige, wie wenn man mit einem Kübel kalten Wassers übergossen wurde, auch wenn sie, im Vergleich zu den anderen Stücken hier noch gering war. Wie betäubt nickte sie, ihre Börse hervorziehend, während der Verkäufer die Flöte von ihr nahm, sodass sie beide Hände frei hatte. Einige Minuten des Zählens später war die Geldbörse erschreckend flach, als sie sie wieder verstaute. Die Frage des Besitzers, ob er die Flöte einpacken sollte, bejahte sie nur mit einem kurzen, wie betäubten nicken. Der Ladenbesitzer entfernte sich, das junge Mädchen einfach dort stehen lassend. Als er mit dem nun in einer Schachtel verstauten Gegenstand zurückkam, stand Reika noch immer da, wie er sie verlassen hatte, erst als er ihr die verpackte Flöte reichte, schien etwas Leben in ihr zurückzukehren.
„Arrigato...“ Mit einem kurzen Nicken nahm sie das Paket entgegen, bevor sie sich zum gehen wandte. Wieder schweifte ihr Blick durch den Laden, bevor sie auf Uyeda zur Ruhe kam. Ohne darüber nachzudenken brachten sie ihre Schritte zu ihm und dem anderen Mädchen mit einem gut sichtbaren Stirnband. Sie hatte Idoki, der wohl draußen auf sie wartete nicht vergessen, doch wollte sie die Begegnung mit ihm noch ein wenig hinauszögern um Zeit zu haben sich zu sammeln.
„Konnichiwa, Reika desu. Idoki und ich gehen zur Akademie etwas üben, willst du mitkommen?“ Mit einem freundlichen, offenen Lächeln stellte sie sich vor, die verpackte Flöte vorsichtig haltend, als wäre sie aus Gold. Der zweite Satz war zu Uyeda gesprochen, während sie innerlich hoffte, nicht in irgendein wichtiges Gespräch reingeplatzt zu sein. Dummes Kind... Immer mit der Tür ins Haus, wie? Es kostete ihr einiges an Selbstbeherrschung um nicht zu erröten, während ihr Blick sich auf den entferntesten Punkt im Laden richtete...