*Noch… ein wenig länger… aah…*
Unglücklich mit seiner Schlafposition drehte sich der Misumi unruhig auf von einer Seite auf die andere. Dabei drückte der harte Steinboden unsanft gegen seine müden Knochen. Um wieder einschlafen zu können, holte Kimihiro einmal tief Luft, wobei die kühle Luft ihm jedoch derart in der Nase kitzelte, dass er kurz vor einem lauten „Hatschi!“ stand. Im letzten Moment fuhr er sich mit einer Hand über seine Nasenflügel, schniefte, und richtete sich dann doch schlaftrunken auf.
*Keinen Sinn… zu kalt… Decke… Matratze so… Moment…*
Langsam, ja schneckengleich setzten sich die Denkmechanismen des Misumi erst jetzt in Bewegung. Ja, es war kalt, doch das konnte man vielleicht noch einer von sich gestrampelten Decke zu beschreiben. Dass sich aber eine weiche Matratze in einen unbarmherzigen Steinboden verwandelt hatte, das war definitiv nicht möglich. Bei dieser Erkenntnis sammelte Kimihiro all seine Kraft, um seine bleiernen Augenlider zu heben, doch was er sah, ließ sofort den größten Teil Müdigkeit ohne eigenes Zutun von ihm abfallen: Das hier war nicht sein Zimmer, nein, ganz bestimmt nicht. Statt sanft getünchten Wänden umgaben ihn schummrige Felsmauern, die sich zu einer eindrucksvollen Kammer erhoben. Erleuchtet von einzelnen Feuern, die flackernd gegen die vorherrschende Dunkelheit stritten, bildete der kalte Stein einen nahezu perfekt viereckigen Raum, der völlig leer zu sein schien. Diese bedrückend schwarze Atmosphäre war jedoch nicht dass, was Kimihiro direkt aus seiner Schlaftrunkenheit geweckt hatte. Dies hatte einzig das unglaubliche Kunstwerk vollbracht, welches der Junge noch immer aus großen Augen anstierte: Sämtliche Wände waren mit einheitlich mit einem Gemälde verziert, das ungeheuer glaubhaft den Eindruck vermittelte, man befände sich einer Art Schloss oder Kirche mit verzierten Fenster, durch welche Licht fiel. Dieses wiederum zauberte auf das behauene Gestein Schatten, wie sie echter kaum abzubilden waren.
*Wer… was… wo…?*
Wer dieses Meisterwerk geschaffen hatte konnte Kimihiro kaum erahnen, ebenso wenig wie was genau dieser Raum war. Wo er war… das konnte er dagegen ganz plötzlich selbst beantworten, als ihm die letzten Bilder durch Kopf sausten, bevor ihn absolute Finsternis umfangen hatte.
Zuvor…
„Ein Gewölbe?“
Aufmerksam musterte Kimihiro die ihm ausgehändigte Karte. Dunkle Rechtecke, Zahlen und Symbole wiesen verschlossene wie offene Türen, geheimnisvolle Räume und das Ziel der Reise aus, welche die diesjährige Chuuninprüfung darstellte. Die Aufgabe schien einfach: Durchquere den Kerker und gelange ans Ziel. Sicher, Überraschungen lauerten in einigen Räumen, doch war eine solche Aufgabe nicht leichter zu bewältigen als, sagen wir, ein Turnier in einem riesigen, unüberschaubaren Gebiet? Wahrscheinlich nicht, immerhin würden sich die Veranstalter entsprechend anspruchsvolle Fallen ausgedacht haben, doch andererseits gab es bei Prüfungen immer leichtere und schwerere Jahre. Konnte sich Kimihiro also glücklich schätzen, ein einfaches Jahr erwischt zu haben? Vielleicht. Doch ob einfach oder nicht, eines gab es in jedem Fall zu beachten: Regeln. Nachdem die Karte ausgiebig studiert war überflog Kimihiro das Regelwerk der Prüfung erst ein, dann ein zweites, und dann ein drittes Mal.
*Schlüssel, Türen, Stempel… Das müsste man doch eigentlich…*
Ein Schlag. Alles wurde schwarz.
An mehr konnte sich der Misumi nicht erinnern. Die Zusammenhänge konnte er sich aber ohnehin denken: Kaum war dem Teilnehmer alles Nötige überantwortet, setzte man ihn außer Gefecht und bugsierte ihn auf den Kampfplatz. So ersparte man sich schon das Problem allzu aufmerksamer Shinobi, die sich den Weg in das Labyrinth eventuell merken konnten, plus: Die Teilnehmer waren sofort, ohne Vorbereitungsmöglichkeit gefordert, was eine weitere kleine Schwierigkeit darstellte.
Damit wären wir auch wieder bei dem etwas verwirrten Misumi, der sich nämlich in diesem Moment genau diesem Problem gegenübersah: Im Schneidersitz saß er unbeholfen auf dem kalten Stein, starrte auf das kunstvoll gearbeitete Abbild eines hohen Fensters, und stellte sich die entscheidende Frage: Was nun?
*Eine Bestandsaufnahme wäre angebracht. Mal sehen, ob mir die Prüfer irgendetwas geklaut haben.*
Rasch stand Kimihiro auf und tastete sich von oben bis unten ab. Seine Brille saß sicher auf seiner Nase, seine Weste lag gewohnt locker. Seine Beintasche und sein Armband waren ebenfalls noch da, zusammen mit Kunai, Shuriken, dünnem Draht für Fallen, Stiften verschiedener Art, Explosionstags, seinem Zeichenblock und seiner Flöte. Auch eine Kopie der Karte und der Regeln fand er zusammengefaltet in seiner Beintasche. Beides nahm der Misumi zur Hand, allerdings erst nachdem er mit einer leichten Berührung des Siegels an seinem Handgelenk seinen Zeichenblock zu sich gerufen hatte. Auf diesem als Unterlage breitete er die Karte aus und betrachtete sie. Die Räume waren klar umrissen, das Ziel deutlich zu erkennen, ebenso die Überraschungszimmer.
*Scheinbar steht dem Beginn der Prüfung nichts mehr im Weg. Gut… dann, hmm… Vorbereitungen.*
Ohne sich zuerst im Raum umzusehen schnappte sich Kimihiro seinen Pinsel aus der Tasche an seinem Bein, legte Karte und Regeln zwischen die Seiten seines Blocks und begann, mit etwas selbsterzeugter Tinte vier Vögelchen auf ein frisches Blatt Papier zu zeichnen. Anschließend formte er ein Fingerzeichen und flüsterte leise drei Worte in die schummrige Dunkelheit:
„Ninpō: Chōjū Giga“. Sofort entfalteten sich die Zeichnungen zu voller Größe, und vier Geschöpfe von der Größe normaler Singvögel umflatterten den Misumi. Es folgte ein kleiner Test des
„Kuzukei“, mit dessen Hilfe er für den Bruchteil einer Sekunde Kontakt zu seinen Geschöpfen aufnahm; seine Perspektive wechselte dabei insgesamt fünf Mal. Mit dieser kleinen Vorsichtsmaßnahme wäre gewährleistet, dass kaum etwas in einem Radius von bis zu einem Kilometer der Aufmerksamkeit des Misumi entging, vorausgesetzt er war nicht in einen fordernden Kampf verwickelt. Anschließend zeichnete er erneut ein paar Kreaturen auf das nun wieder jungfräuliche Papier. Als der letzte Strich gesetzt war, prangten auf dem ersten Blatt des Blocks ein großer Vogel, zwei Löwen und drei Vögel, letztere mit Explosionstags versehen. Alle umrahmte Kimihiro zum Schluss mit den Siegeln des
„Gaku Kansuru“, um in Not schnell auf eine kleine Einsatztruppe zurückgreifen zu können. Sicherlich würde ihm das im Ernstfall nur ein paar Sekunden bescheren, doch in einem Spiel um Leben und Tod mochten selbst winzige Augenblick einen unglaublichen Unterschied zu machen.
Derart vorbereitet griff Kimihiro zu seiner Karte und legte sie über das erste Blatt seines Blocks. Mittlerweile waren die Zeichen dafür, dass Kimihiro bis vor wenigen Minuten noch fest geschlafen hatte, beinahe komplett verschwunden. Hier merkte man eindeutig, dass der notorische Langschläfer nicht zum ersten Mal blitzartig zwischen Schlummer und Konzentration wechseln musste – wer immer wieder absichtlich oder „zufällig“ einen Termin verschlief gewöhnte sich mit der Zeit einfach an solche Umstellungen. Somit recht ausgeruht, entspannt und recht neugierig auf die Zeit, die vor ihm lag, warf Kimihiro das erste Mal einen wachen Blick um sich. Zeitgleich stoben seine Vögel auseinander und verteilten sich in die vier Ecken des Raumes. Schnell erkannte der Chuunin-Anwärter, dass er sich nahe einer Ecke des Raumes befand und einen recht guten Überblick über die Szene genoss. Noch immer verschlugen ihm die Wandmalereien die Sprache, doch galt es im Moment nicht die künstlerischen Fähigkeiten deren Urhebers zu würdigen. Viel wichtiger war es, sich zu orientieren. Nach einem ausgiebigen Rundblick schaute Kimihiro zurück auf die Karte und suchte nach Möglichkeiten, seinen Standort zu bestimmen.
*Im Moment kann ich die Räume nur über die Lage der Türen unterscheiden. Manche sind in ihrer jeweiligen Wand mittig, andere links, andere rechts. Mal sehen, wo…* Suchend tastete er mit den Augen die bemalten Mauern ab, wobei sich schnell herausstellte, dass die schummrigen Fackeln insgesamt nur eine einzige Tür erhellten, welche eher der rechten Seite zuzuordnen war. Die Karte zeigte lediglich zwei Räume, wobei von einem eine Art dünner Nebengang abzweigte. Ein Blick in ebenjene Ecke des echten Raumes schien eine eindeutige Sprache zu sprechen, auch wenn man nicht wusste, ob der dünne Gang vielleicht absichtlich etwas verborgen wurde.
*Wenn wir dieses Problem einmal beiseitelassen befänden wir uns in… Raum 5. Raum 13 wäre die zweite Variante, wobei wir schnell sehen müssten, wo wir sind, wenn wir nach draußen gehen. Bei einem geraden Gang nach vorne 13, bei zwei Richtungen 5. Also dann…*
Die Karte vorn auf dem Block behaltend machte Kimihiro ein wenig wie ein Tourist anmutend den ersten Schritt nach vorn in Richtung Tür. Sein Blick schweifte umher, ergötzte sich an den Malereien, beobachtete einen sich unnatürlich regenden Schatten, bestaunte die tanzenden Flammen, musterte den… Halt. Unnatürlicher Schatten? Rasch schwenkte sein Blick zurück, und tatsächlich: Dort, ziemlich weit entfernt, schob sich etwas oder jemand die Wand entlang. Jäh blieb Kimihiro stehen und verlagerte seine Konzentration auf seine Vögel. Eins und zwei waren zu weit weg, drei sah ihn nur von hinten, und vier… Vogel Nummer vier beobachtete einen weißhaarigen Jungen mit einem Schwert?! Unwillkürlich zog Kimihiro eine Braue hoch, nachdem sein Blick wieder zurückgekehrt war.
*Ein zweiter Teilnehmer im selben Raum? Dass sie mehrere Teilnehmer gleichzeitig umherirren lassen war klar, doch das mehrere im selben Raum starten… seltsam.*
Sicherheitshalber ging Kimihiro noch einmal alle vier seiner zusätzlichen Blickwinkel durch, doch außer dem Jungen war der Raum wirklich leer. Was nun? War der Junge Freund oder Feind? Sollte man mit ihm kooperieren, ihn angreifen, oder einfach offen ansprechen? Letzteres sicherlich nicht, aber ein direkter Angriff war ebenso unhöflich wie ein übles Risiko. Eine kleine Täuschung schien angesagt, weshalb Kimihiro erneut seine Karte nach hinten steckte, das erste, bepinselte Blatt zurückschlug und sich ein weißes Stück Papier vornahm. Noch einmal besah er sich des Jungens; allein das Schwert in seiner Hand sprach Bände. Ihn mit einem weiteren Schwertkämpfer zu konfrontieren wäre eine schlechte Idee, ein Ninjutsuka dagegen könnte ihn abschrecken. Fuuton, ja, mit einem Fächer, der deutlich auf einen Fernkämpfer hinwies. Außerdem sollte es ein Mädchen sein, vielleicht konnte man den Jungen so ja auf dem falschen Fuß erwischen. Es könnte außerdem sein, dass er aus dem Verbund von Soragakure kam, deshalb wurde die Zeichnung rasch um ein Stirnband von Amegakure ergänzt, das der Zeichnung um den Hals hing. Das kleine Dorf schickte sicherlich die geringste Anzahl Shinobi zur Prüfung, weshalb damit die Chance am kleinsten war, dasselbe Dorf wie das des Jungens zu erwischen. Dazu ein freundliches, offenes Gesicht, ein paar weibliche Vorzüge, durch Kleidung betont versteht sich, und… fertig. Am Ende des letzten Pinselstrichs löste Kimihiro seine Zeichnung mit einem simplen Fingerzeichen vom Papier und vollführte somit das
„Sumi-Bunshin no Jutsu“. Nutzte man diese Kunst mit der Zeichnung einer anderen Person war das in etwa so, als hätte der Bunshin ein einfaches Henge genutzt. Eine Unterstützung im Kampf würde das falsche Mädchen nicht sein, doch musste es das auch nicht. Stattdessen sollte es den Jungen nur einer Zusammenarbeit etwas zugeneigter machen.
Am Ende all dieser Vorbereitung erklang schließlich ein lautes
„Oooooooooooooi!“ in dem leeren Raum. Der Ruf, vorgetragen von einer leicht verzerrten Version der Stimme der sonst so stillen Mameha Junko – der
Kunst des Stimmenimitators sei Dank, immerhin sollte das falsche Mädchen nicht wie ein Junge reden (dass die Wahl hierbei auf Junko fiel erklärte sich leicht: Wer würde die Stimme des ernsten Mädchens schon erkennen, wenn sie von einem zuckersüßen Ding für freundliche Worte genutzt wurde? Außerdem war Junko bereits Chuunin, dementsprechend war sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht hier, um ihre eigene Stimme erkennen zu können) – hallte ein paar Mal im Raum wieder. Während diese Echos langsam verklangen, hüpfte die von Kimihiro erdachte Figur quicklebendig auf das Weißhaar zu. Unterdessen folgte der Misumi seiner Kreation still hinterher, womit das Bild eines ungleichen Paares nahezu perfekt war: Einerseits ein
fröhliches Mädchen aus Amegakure, auf dessen Rücken ein großer Fächer prangte, andererseits ein zurückhaltender Konoha-nin, der von dem Energiebündel „adoptiert“ worden ist. Vorerst sollte diese Tarnung gewährleisten, dass die beiden Jungen zusammenarbeiten konnten… oder?