Beim Betreten des Raumes entfuhr dem Künstler, wie konnte es anders sein, sofort ein weiterer schwerer Seufzer. Kein Wunder, immerhin sah sich Kimihiro einem typischen „Vom Regen in die Traufe“-Szenario gegenüber, war der nächste Gang nicht bis zu den Oberschenkeln mit Wasser angefüllt. Das meisterhaft gezeichnete Wandgemälde, das diese Ungemach begleitete, wurde von Kimihiro aufgrund dieser Überraschung für den Moment nicht weiter beachtet, immerhin hatte er ein anderes, nicht ganz unwichtiges Problem: Seinen Löwen. Mit einer solchen Menge Wasser würde das Tier sich vielleicht eine Meter vorwärts kämpfen können, danach wäre es jedoch soweit weggeschwemmt worden, dass es zusammenbrechen musste. Doch wie sonst sollten sie Itoe weiterbringen?
*Keine Tinte, das heißt es ist gute alte Handarbeit gefragt. Also dann…*
Mit einem Wink dirigierte Kimihiro den Löwen zu sich, der sichtlich unwillig in das Wasser hinein watete, wobei er gleichzeitig seinen Block wieder verstaute. Vor seinem Herrn blieb das Tier stehen, woraufhin sich Kimihiro dem schlaffen Körper seiner Mitbewohnerin widmete. Losgelöst von den Schlangen, die sich geschickt um eine hingestreckte Hand wanden und am Körper das Misumi Stellung bezogen, war Itoe bereit für einen… Ortswechsel. Letzten Endes blieb Kimihiro nämlich nichts anderes übrig, als sich den bewegungslosen auf den Rücken zu wuchten, wobei ihn seine Nattern tatkräftig unterstützten. Am Schluss dieses zugegeben etwas beschwerlichen Verfahrens war Itoe über alle drei Schlangen an Kimihiro gebunden: Während ein Tier sich jeweils um Schulter und Achsel schlang, verlieh das dritte in Gürtelhöhe dem ganzen ein wenig mehr Stabilität. Somit musste Kimihiro lediglich noch unter die Kniekehlen des Mädchens greifen, damit dessen Beine nicht schlaff durch das Wasser geschleift wurden.
Bepackt mit seinem neuen Rucksack blieb Kimihiro ein paar Augenblicke stehen, um sich an das neue Gewicht zu gewöhnen. Einen richtigen Kampf konnte er so belastet zwar vergessen, doch wozu hatte er Daisuke dabei? *Und was bleibt mir sonst schon übrig? Itoe zurücklassen? Nein, der Zug ist abgefahren. Und selbst wenn das ganze hässlich enden sollte… meine Güte, dann soll es eben so sein. *
Einen Handstreich später stand Kimihiro allein mit Itoe auf dem Rücken vor einer dunklen Schwade aus Tinte, die einst ein stolzer Löwe gewesen war. Bevor das edle Tier ein wenig Wasser zum Opfer fiel, wäre es sicherlich besser, es auf einen Streich aus diesem immer dunkler wirkenden Verließ zu befreien. Nachdem damit der Wechsel von Itoe vollends abgeschlossen war, warf Kimihiro zum ersten Mal einen echten, wenn auch recht verdrießlichen Blick in den Gang, wobei er, ganz Künstler, kurz die erneut famos gestaltete Wand bewunderte. Dabei versuchte Kimihiro beinahe instinktiv, Kontakt zu den Vögeln aufzunehmen, die sein Sichtfeld bisher immer zuverlässig erweitert hatten, doch keines der Tiere antwortete. Kurz verwundert kam ihm rasch eine Erklärung. *Wahrscheinlich hat es sie bei der Regenwolke erwischt… na spitze. Das heißt, es sind Daisuke, Itoe, ich und ein paar Schlangen.* Mit einem noch unglücklicheren Blick fuhr Kimihiro letztlich fort, allein mit seinen Augen den länglichen Raum zu durchforsten, als…
*Nein. Nein, nicht wirklich, oder? Das ist ein Trick. Ja, ganz bestimmt, irgendjemand will uns reinlegen. Das KANN einfach nicht sein.*
Trotz alledem hingen etwas abseits, links an der Wand, tatsächlich zwei Gestalten, die exakt wie die junge Hyuuga Saki und der Schmied namens Kajiya Kei aussahen. Ein Blick zu Daisuke, der ebenso verwundert dreinschaute, bestätigte, dass nicht nur Kimihiro Gespenster zu sehen glaubte. Wie vom Donner gerührt starrte Kimihiro eine ganze Zeit lang die beiden Gestalten, unfähig, auf den Hinweis seines Kameraden einzugehen.
*Saki und Kei… warum? Warum hängen sie plötzlich hier, und nicht mehr in diesem Schachraum? Wa-… Halt. Natürlich. Eigentlich ist es doch dasselbe wie bisher auch, oder nicht? Man will uns ärgern. Nicht mehr, nicht weniger.*
Tatsächlich war Kimihiro in diesem Moment entschieden der Meinung, dass Kei und Saki lediglich Mittel zum Zweck waren. Vielleicht wollte sich Junko einen Spaß erlauben, indem sie den Künstler erneut mit genau den zwei Personen konfrontierte, in deren Fall er sich nicht auf seinen Bauch, sondern auf seinen Kopf verlassen hatte. Insofern gab auch der Auftritt des Rotschopfes vorhin einen logischeren Sinn: Der, der der Mameha schon zuvor gern beigewohnt hatte, half ihr nun erneut bei einem kleinen Spielchen.
*Aber nicht mit mir.*
Ohne Daisuke anzusehen, trat Kimihiro einen Schritt vor während er sagte: „Ja, lass uns weitergehen. Immerhin gibt es hier nichts, mit dem wir uns länger aufhalten müssten, richtig?“ Und tatsächlich, im Augenblick hatte Kimihiro durch und durch vor, ohne ein Wort an Saki und Kei vorbeizulaufen. Beide hatten immerhin schon aufgegeben und mehrmals beteuert, dass sie keine Hilfe wollten. Sollten sie nur darauf beharren, ihn, Misumi Kimihiro, konnte diese Entscheidung egal sein. Am Ende tat er den beiden wohl noch einen Gefallen, schließlich war diese Prüfung absolut nichts für Kinder. Zur Hölle, hätte Kimihiro Itoe nicht auf dem Rücken gehabt, womöglich hätte er auch schon längst das Handtuch geworfen! *Diese ständigen Spielchen für einen lausigen Titel… so ein Schwachsinn! Als ob man als Genin nicht genauso gute Arbeit leisten könnte.* Vergessen war das gute Zureden seiner Bekannten und Freunde. Waren die etwa hier unten? Mussten die sich zum Gespött ein paar Ninja machen, die sich aufgrund ihres Titels für etwas Besseres hielten? Sich vollfressen, den Hampelmann spielen, Kameraden im Stich lassen und zusehen, wie einer nach dem anderen auf der Strecke blieb? Nein!
Mit straffem, wütendem Schritt stapfte Kimihiro vorwärts. Das kalte Wasser platschte laut, was sicherlich die Aufmerksamkeit der beiden Gehängten erwecken würde. Kimihiro war das alles egal, ihm war alles egal, abgesehen von dem langsam verflucht schweren Mädchen, das auf seinem Rücken hing. Immer hastiger setzte Kimihiro einen Fuß vor den anderen, das lähmende Wasser immer heftiger verfluchend, bis endlich kam, was kommen musste: Die Fluten schwappten einmal heftig, Kimihiros Beine verhedderten sich, und er fiel der Länge nach hin. Dabei lösten sich zusätzlich die Schlangen auf, wodurch Itoe einfach so von seinem Rücken ins Wasser zu rutschen drohte. Kimihiro, der dies völlig außer sich bemerkte, versuchte nach dem Aufprall so schnell wie möglich, mit beiden Händen auf den Boden gestützt aufzustehen, doch dabei gab einer der Steine, die den Untergrund des Gangs bildeten, ein wenig unter ihm nach. Ein Klicken ertönte, und noch ehe Kimihiro die Chance hatte, aus seiner momentanen Liegestütz-Position aufzustehen, surrten etliche Pfeile über seinen Kopf hinweg. Der Künstler bemerkte wenig mehr als das leise Rauschen der Geschosse über sich, doch allein dieses Geräusch ließ ihn ängstlich und gelähmt in der Bewegung innehalten. Dann, als endlich wieder Ruhe herrschte, kniete sich der Künstler mit vor Wut verzerrtem Gesicht hin, suchte nervös nach dem Kopf der Hyuuga, der in dem ganzen Durcheinander unter Wasser geraten war, und hob ihn zurück an die Oberfläche. Eine Zeit lang schaute Kimihiro dem bewusstlosen Mädchen einfach nur ins Gesicht, dann wand er sich wütend der Decke zu und schrie: „Ihr verdammten Idioten! Für was zur Hölle haltet ihr uns eigentlich? Für irgendwelche lächerlichen Spielfiguren? Wenn ja, dann kommt raus und spielt mit uns! Kommt schon, kommt und zeigt euch! NA LOS!“
Doch nichts geschah. Kein Stein regte sich, kein geheimes Loch kam zu Vorschein. Hilflos kniete Kimihiro weiter im Wasser, bis er seinen Blick letztlich von der Decke loseisen und wieder Itoe ansehen konnte. Dabei bohrten sich seine Zähne so heftig in seine Unterlippe, dass beinahe Blut floss. Nach einigen Augenblicken schaute Kimihiro auf und fixierte Daisuke, doch anstatt purer Wut zeichnete vor allem Verzweiflung seine Züge. Durch das Wasser, das seine Wangen hinab rollte, sah es fast so aus, als würde der Junge weinen. Langsam wurde es ganz einfach… zu viel. Mit brüchiger Stimme rief er ihm zu: „Kannst du mir hier kurz zur Hand gehen... Itoe wieder auf meinen Rücken packen... bitte? Ich… Ich…“ Letztlich überschlugen sich die Worte, und seine Stimme versagte. Stumm schaute er noch eine Weile zu Daisuke, dann schaute er wieder der Hyuuga in die zugeschlagenen Augen, deren Haupt leblos in seinen Händen ruhte. Ein Tropfen nach dem anderen fiel dabei von Kimihiros Wange hinunter auf ihre Stirn.