Was Chinatsu damit meinte, dass man mehr Spaß mit ihr haben könnte, als erstmal gedacht? Oh. Die Hasekura tippte sich ans Kinn und dachte einen Moment länger über die Frage nach. Die 16-Jährige war nicht so gut darin, sich in andere Personen hineinzuversetzen und auch Gefühle konnte sie meistens nicht richtig vom Gesicht des Gegenüber ablesen. Allerdings war es sogar für Chinatsu offensichtlich, dass ihre Aussage Akiko irgendwie... getroffen haben musste. Die Stirn lag in Falten und die kontrollierten Bewegungen, mit denen die Nara zuvor die Äste aus dem Weg geschnitten hatte, wurden hektischer. Die gelben Äuglein hingen einen Augenblick länger an der Astschere, als unbedingt notwendig gewesen wäre, bevor sie wieder zu Akiko direkt blickte und mit den Schultern zuckte. Irgendwie musste ihr das doch auch selbst bewusst sein, oder? Chinatsu war auf jeden Fall keine Person, die um den heißen Brei herumsprach oder log, damit andere Personen sich besser fühlten. Das konnte sie einfach nicht. „Naja. Die schwarze Hose, schwarze Brille, die dunkelgrünen Gummistiefel, der strenge Zopf. Und dann auch noch die Handschuhe in gleicher Farbe, die du extra für den Auftrag mitgebracht hast. Das wirkt auf den ersten Blick jetzt nicht unbedingt wie die typische Spaßkanone. Eher ziemlich... hm. Pflichtbewusst? So als hättest du dir viele Gedanken gemacht. Der Auftrag soll ordentlich erfüllt werden, auf alles vorbereitet und so.“ Wieder zuckte Chinatsu mit den Schultern, musterte Akiko einen Moment länger, bevor sich ein breites Grinsen auf das zuvor grübelnde Gesicht legte. „Aber hey! Der erste Eindruck kann ja auch trügen. Ich werde mich bestimmt nicht beschweren!“ Sie zwinkerte. In der Vergangenheit waren Aufträge, die die Origami-Userin mit einer Spaßbremse hatte durchführen müssen, immer so unheimlich anstrengend gewesen. Wenn man allerdings zusammen lachen und sich unterhalten konnte, verging die Zeit wie im Fluge! Zumindest für Chinatsu. Während der Raku-Doppelgänger sich sowohl um den Laub- als auch Asthaufen kümmerte, den die beiden Genin auf dem Boden hinterlassen hatten, stemmte die Hellhaarige eine Hand in die Hüfte und nickte überzeugt. Dass Akiko geschickt von dem Familienthema ablenkte, bemerkte sie nicht. „Klar kann ich auch Sachen, die man im Kampf gut gebrauchen kann. Aber das kann man schlecht beschreiben, das muss man sehen.“ Einen winzigen Moment spielte das Mädchen mit dem Gedanken, hier und jetzt ihr Papier heraufzubeschwören und ein paar Techniken zum Besten zu geben. Allerdings wäre es übertrieben, hier inmitten des Jobs einen gigantischen Papierelefanten auftauchen zu lassen oder unzählige Papierklingen über dem Abenteuerspielplatz schweben zu lassen wie ein Damoklesschwert. Ähm... nein, die Idee sollte sie wieder verwerfen. Sie hob beide Hände und winkte ab, obwohl sie ihre Gedanken ja gar nicht geäußert hatte. „Ich zeig es dir lieber ein andermal. Auf dem Trainingsplatz oder so. Vielleicht machen wir ja auch mal eine coole Mission zusammen, dann kannst du es gleich in Aktion sehen!“, wiegelte sie das Thema also vorerst ab und war eigentlich ziemlich stolz auf sich, dass sie ihrem erstem Impuls nicht einfach gedankenlos gefolgt war. Das war für eine Person wie Chinatsu bereits ein großer Entwicklungsschritt!
Dann wurde das Gespräch allerdings nochmal spannender. Akiko erzählte, woher sie Raku kannte und Chinatsu lauschte besonders aufmerksam ihren Worten. Ach, nebenbei angemerkt: Natürlich hatte die Origami-Userin bei der Erschaffung der Papierdoppelgänger eine gewisse künstlerische Freiheit walten lassen. So hatten alle männlichen Kollegen kleine Anpassungen bekommen, sei es das breitere Kreuz, markantere Gesichtszüge, einen knackigeren Po oder einen Hauch dunkleren Teint. Je nachdem, wo es gerade am besten passte. Und auch hier fiel wieder auf: Ja, Chinatsu achtete selbstverständlich auf diese Details, wenn sie jemanden kennenlernte oder eben – wie im Falle dieser vier männlichen Kollegen – auch viel Zeit mit ihnen verbrachte. Ein paar Optimierungspotenziale gab es immerhin immer, nicht? Die Nara erklärte, dass es ihr schwerfiel, über sich selbst zu sprechen, doch sie gab sich einen Ruck – etwas, wovor sogar die extrovertierte Hasekura einen gewissen Respekt hatte. Immerhin sprach das doch davon, dass sie sich Mühe gab, oder? Hm. Zuerst hörte sich alles nach einem normalen Auftrag an, den Akiko und Raku zusammen erledigt hatten. Aber dann öffnete sich der Mund Chinatsus einen Spalt breit. Sie... waren zusammen an den Südhängen vor Shirogakure gewesen? Und das Treffen gestaltete sich aufregender, als ursprünglicher erwartet? Mo... Moment. Die Südhänge waren ja wohl ALLEN bekannt als Ort für ein kleines Date, abseits des allgemeinen Trubels. Chinatsu erinnerte sich selbst an den einen oder anderen Nachmittag, den sie dort verbracht hatte. Es passierte nicht oft, dass Akiko Leute wirklich kennenlernte, sie hatte Interesse an ihm, fand ihn faszinierend und... gutaussehend? Und schon ging es los: Die Hasekura dachte sich ihren Teil. Und nach diesem Teil waren Akiko und Raku sich auf den Südhängen abseits der Blicke Dritter schon deutlich nährgekommen, als es in Wirklichkeit der Fall war. Schlagartig erinnerte sich die 16-Jährige daran, dass der Manako während einer Mission mit zwei Bediensteten eines Hotels gebadet und geschlafen hatte. Okay, es war ihr nur erzählt worden. Aber hey! Die Sora-Nin hatten ja wohl keinen Grund gehabt, sie anzulügen. Und dann das Gerücht, dass Raku etwas mit Sakaida Mai am Laufen gehabt haben sollte. Und dann noch diese braunhaarige Piratin beim letzten Auftrag, mit der Raku nicht nur geflirtet und einen Cocktail getrunken hatte, sondern die er auch noch versucht hatte, abzuschleppen. Mitten im Auftrag! Der Bogenschütze hatte in der Vergangenheit immer so getan, als würde die Mission an erster Stelle stehen. Als wäre Spaß ein Fremdwort für ihn. Aber... Chinatsu wusste es mittlerweile besser! Das war alles nur ein Schauspiel, in Wirklichkeit war Raku ein richtiger Schlawiner! Er tat nur immer so unschuldig, wie Chinatsu während der letzten Aufträge klargeworden war. Und nun hatte er sich tatsächlich Akiko als nächstes Opfer ausgesucht... die ihren eigenen Worten nach zu urteilen noch vollkommen unbefleckt in diesen Themen war. Die gelben Äuglein hatten die Nara viel zu lange angestarrt, sodass die Kollegin sicherlich sofort merkte, dass etwas nicht stimmte. Die Origami-Userin schüttelte den Kopf, um sich selbst zur Vernunft zu rufen. Raku war einer ihrer besten Freunde und doch... es wäre nicht fair, die unbedarfte Akiko einfach weiter in die Arme des lüsternen Bogenschützen zu treiben, oder? Sie hatte zumindest verdient, zu wissen, worauf sie sich einließ, oder? Nicht, dass man keinen Spaß mit dem Manako haben könnte... „Ähm...“ Chinatsu suchte nach den richtigen Worten, was ein ziemlich seltener Anblick war. „Also, die anderen drei sind... Izuya, Rai und Yui“, nahm sie das Gespräch wieder auf, lehnte dann die Laubharke gegen einen naheliegenden Baumstamm und schritt auf die Nara zu. Direkt neben dem Schild, das die Dunkelhaarige gerade neu grundierte, blieb sie stehen und beugte sich verschwörerisch zu der Nara. Ihre Stimme wurde leiser, als könnte man sie belauschen. „Du, Akiko. Wegen Raku.“ Sie deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück, dahin, wo der Doppelgänger gerade unterwegs war. „Raku und ich kennen uns schon mehr als zwei Jahre und naja, also, normalerweise würde ich nichts sagen. Aber wenn du tatsächlich noch nicht so viel Erfahrung hast, möchte ich einfach, dass du Bescheid weißt, worauf du dich bei Raku vielleicht... einlässt.“ Sie kratzte sich an der Wange, denn sie wollte keinesfalls schlecht von dem Manako sprechen. Sie selbst war ja auch niemand, der nach Liebe oder Partnerschaft suchte, weshalb sie Raku nicht einmal einen Vorwurf machte. Aber für ein gebrochenes Herz wollte die Hasekura auch nicht verantwortlich sein! „Er... tut ziemlich unschuldig. Aber eigentlich weiß er schon ganz genau, was er machen muss, um die Frauen rumzukriegen. Es gab da schon mehrere Szenen auf Aufträgen, da war ich selbst sogar sprachlos! Ich bin sogar schon von ein paar Sora-Nin darauf angesprochen worden, die Raku kennengelernt haben und mir da so ein paar Dinge erzählt haben. Dass sie schockiert gewesen wären, dass er sich nicht einmal auf einer Mission hatte zurückhalten können...“ Chinatsu war auf die letzte Frage Akikos noch gar nicht richtig eingegangen, aber irgendwie fand sie es gerade viel wichtigere, Akiko aufzuklären. Ob sie ihr glaubte? Das wusste Chinatsu natürlich nicht, aber immerhin konnte man ihr dann nichts mehr vorwerfen!