„
Danke.“, flüsterte Tamaki, als Shunsui das Absperrband hinter ihm wieder herunterließ. Obwohl es nur ein dünner Streifen Plastik war, fühlte es sich, an als würde eine schwere Tür ins Schloss fallen, als gäbe es jetzt kein Zurück mehr. Ein bisschen wunderte sich der Suzuya über sich selbst – ein Zurück hatte es schließlich schon nicht mehr gegeben, seit er seinen Fuß auf das Schiff gesetzt hatte. Vielleicht lag es auch einfach an der seltsam bedrückenden Stimmung auf dieser Mission. In der Hoffnung, dass mehr Koffein es besser machte, war Tamakis erste Amtshandlung am Tatort ein Schluck Kaffee. Zumindest ein bisschen Aufmunterung, wenn auch in anderer Hinsicht als der, die er jetzt gebraucht hätte. Aber man musste mit dem arbeiten, was man hatte, selbst wenn das nur guter Wille und ein Becher Kaffee war. Wachen Auges musterte der kleine Genin den Eingangsbereich, aber auch er konnte sich nicht der schieren Menge an Blut entziehen, die sich in Form eines Fragzeichens über die teuren Fliesen ergoss. Obwohl seit der Tat schon einige Zeit vergangen war, hing noch immer ein metallisch-fauliger Geruch in der Luft. Tamaki horchte kurz in sich hinein, ob sich Anzeichen von Übelkeit bemerkbar machten, blieb aber erfreulich unbeeindruckt. Es würde ihm heute also zumindest erspart bleiben, vor seinen Teampartnern zu kotzen. Ein Lichtblick. „
Dann sehe ich mich hier unten um.“, erklärte der Suzuya und nahm Gefrierbeutel und Taschentücher entgegen. Passte zum Glück in eine Hand, denn die andere hielt noch immer den Kaffeebecher. Was er aber viel mehr brauchte, waren seine Augen. Ein Blick nach links, ein Blick nach rechts, um sicherzustellen, dass Shunsui und Kenta auch wirklich nicht mehr in der Nähe waren, dann flackerte das blassblaue Licht des Taragans auf. Tamaki sog scharf die Luft ein und stolperte erschrocken einen Schritt zurück. Ein Meer von irisierenden Wolken in allen möglichen und unmöglichen Farben drängte auf ihn ein und er brauchte einen Moment, um sich von den intensiven Eindrücken nicht überwältigen zu lassen. ‘
O-kaa-san hatte Recht...‘, dachte er, während er Atem schöpfte und sich erneut konzentrierte. '
Es ist stärker geworden. Aber mehr zu sehen ist gerade kein Vorteil ...‘. Nach und nach ordnete Tamaki die Farben zu und sortierte jene aus, von denen er glaubte, dass sie nicht unmittelbar mit dem Mord in Verbindung standen. Schrecken, Ekel, Neugier, Betroffenheit, Ärger und Resignation stammten wohl vor allem von den Polizisten, die den Tatort untersucht hatten. Zufriedenheit, Freude und der kleine Hauch von Lust mochten vielleicht noch von den Opfern stammen. Diffus zogen sich die Echos vergangener Auren durch den Raum, was sich aber direkt vor seinen Augen auftat, überraschte den kleinen Suzuya. Über dem Fragezeichen und den blutigen Fußabdrücken waberte eine Aura, die er kannte. Kühle Berechnung und im Zaum gehaltene Mordlust. ‚
Kenta?!‘. Tamakis Kopf fuhr zur Küchentür, vor der die gleichen Farben waberten. Aber nein ... diese waren anders. Neugier und eine gewisse Vorfreude mischten sich in die Aurenspur des Kinzoku. Was über der Blutlache schwebte, entbehrte jeder Freude, aber auch jedes Zorns. Vielmehr erkannte Tamaki eine tiefe Zufriedenheit und das Gefühl eines Abschlusses. So als wäre jemand angekommen. Er hatte wohl den Mörder gefunden ...
Zögerlich warf Tamaki einen Blick in Richtung der Treppe, die Shunsui eben hinaufgegangen war. Mehr um sicherzugehen, dass der schüchterne Genin nicht kurz davor war, wieder hinunterzustolpern. Das Bild, das sich dem Suzuya bot, passte aber so gar nicht zu dem Shunsui, den er kennengelernt hatte. Wo er Unsicherheit und Scham erwartet hatte, brodelte heißer Zorn, verwirbelt mit eiskaltem Hass und Verschlagenheit. Die deutliche Spur Neugier, die wohl bei ihnen allen gerade zu sehen war, fiel dagegen kaum noch ins Gewicht. Einmal mehr musste Tamaki tief durchatmen. Schien, als sei er nicht der größte Illusionist des Teams ... Shunsui hatte gewiss seine Gründe, so wie er selbst auch. Dennoch versetzte es dem Suzuya einen schmerzlichen Stich und er wünschte sich, nicht genau hingesehen zu haben. Mehr zu sehen war wirklich nicht immer von Vorteil. Und auch mit einer weiteren Lektion sollte seine Mutter Recht behalten. ’
Die Masken, die unsere Mitmenschen tragen, sind vielleicht die größte Illusion von allen ... Binde dich an niemanden und erspar dir die Enttäuschung.‘. Scheu blickte Tamaki sich um. Noch immer war er allein. Jetzt vielleicht noch mehr als zuvor. Ein leises Seufzen später hatte er sich wieder ausreichend im Griff, um sich auf die eigentliche Aufgabe zu konzentrieren. Die Aurenspur, die vermutlich zum Mörder gehörte, hing nicht losgelöst im Raum, sondern führte einmal durch den Eingangsbereich zu einer Tür am anderen Ende des Hauses. Tamaki folgte ihr, froh darüber, den Raum und seine Erkenntnisse fürs erste hinter sich zu lassen. Frische Luft empfing ihn, als er die Tür öffnete, und ein weitläufiger, gepflegter Garten breitete sich vor ihm aus. Hübsch eigentlich, aber nicht zu wissen, ob die eigenen Teamkameraden vielleicht noch schlimmer waren als der Mörder, den man gerade jagte, trübte Tamakis Sinn für Schönes gerade enorm. Er folgte der Spur, die blass, aber gut erkennbar in der Luft hing, und fand auf dem Boden darunter die passenden Fußabdrücke. Kunststück, wenn man weiß, wo man hinschauen musste. Ohne es recht zu merken, verließ der Suzuya den Garten und entfernte sich durch den umstehenden Wald immer weiter vom Anwesen, bis das tosende Geräusch brechender Wellen in sein Bewusstsein drang. Wenige Meter vor ihm brach der Boden in einer Steilwand ab. Und genau dort verlor sich die Spur. Ratlos blieb der kleine Genin am Rande des Abgrunds stehen. Rauer Wind blies ihm harsch ins Gesicht. Was für eine ironische Illustration seiner Lage ... Doch eine Konstante war ihm geblieben. Mit schwachem Lächeln sah Tamaki auf seinen Kaffeebecher und kippte sich den lauwarmen Rest kurzerhand herunter. Er sollte zurückgehen, bevor die anderen ihn noch vermissten. Zumindest Kenta würde wohl nicht zulassen, dass der Erfolg seiner Mission durch einen verschwundenen Genin getrübt wurde. Der Suzuya wandte sich von der Klippe ab und ließ sein Taragan verlöschen. Er war sich nicht sicher, ob er jetzt noch irgendetwas Verborgenes sehen wollte, und es hatte ihn inzwischen auch genug Kraft gekostet. Ganz kam er um Entdeckungen jedoch nicht herum. Etwas Weißes zog seinen Blick auf sich. Tatsächlich ... im Gebüsch hatte sich ein Taschentuch verfangen. Er musste es auf dem Hinweg übersehen haben. Vorsichtig klaubte er das Fundstück mithilfe seines eigenen Taschentuchs aus den Zweigen und verfrachtete es in einen der Gefrierbeutel. Auf den ersten Blick sah es unspektakulär aus. Schlichter, weißer Stoff, erstaunlich sauber, der Rand mit einer Borte blauer Doppelstreifen versehen. Ein Zierstück? Bei genauerem Hinsehen erkannte Tamaki einige blaue Flusen, die nicht zu dem Tuch selbst gehörten. Aber mehr konnte er aus seinem Fund erst einmal nicht herauslesen. Sollten die anderen am besten einen Blick darauf werfen.
Es dauerte gute fünf Minuten, die Tamaki schnellen Schrittes durch Wald und Garten lief, bis er das Anwesen wieder erreicht hatte. In der Küche fand er Kenta und Shunsui wieder. „
Ich bin den Fußspuren gefolgt und habe das hier gefunden.“, teilte er nüchtern mit und hielt den beiden den Beutel mit dem Taschentuch hin.
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