"Äh, Senpa-?"
Wusch! Im einen Moment noch hatte die Welt ganz normal ausgesehen, war es ein schöner, geruhsamer Tag gewesen. Jetzt waren da nur noch bunte Streifen, Luft die viel zu schnell zum Atmen war, und ein plötzliches, sehr, sehr unangenehmes Schwindelgefühl.
WaszumGeierpassierthiergeradeverdammichnocheinsstopstopstop!
Oitas Mund öffnete sich, doch anstatt seinen verwirrten Gedanken Ausdruck zu verleihen, schlabberte seine Zunge im Wind wie bei einem Hund. Spucketröpfchen flogen durch die Gegend, Tränen schossen Oita in die Augen und irgendwo zwischen Schulter und Arm brannte ein lichterloher Schmerz.
ZumindestistderArmnochdranaberwielangenochohGottmachdasesaufhört!
Als hätte irgendeine traurige Gottheit das kleine Stoßgebet wahrhaftig erhört kam die Welt tatsächlich und so rasant zum Stehen, wie sie eben noch verzerrt worden war. Oitas schmächtiger Körper kam damit allerdings genauso wenig zurecht wie mit der plötzlichen Geschwindigkeit, sein Magen drehte sich im Kreis, sein Blick brauchte eine halbe Minute, um auch nur irgendetwas wieder in Fokus zu bringen, und seine Beine zitterten merklich. Unsicher stolperte er zum erstbesten… Ding, das ihm Halt geben konnte, und nahm sich ein paar ausgiebige Augenblicke, um wieder zur Besinnung zu kommen.
Als er das allerdings geschafft hatte, war das erste, was er sah, die unscheinbare Gestalt seines Prüfers, der scheinbar geduldig auf den kleinen Schüler wartete. Dabei bemerkte Oita zwar nicht, wie der sonst so professionelle Ninja sich ein selbstzufriedenes Lächeln erlaubte, doch auch so begriff er langsam, was eben passiert war.
Meine Güte, da stellt man ein paar zweckmäßige Fragen, und schon wird einem der Arm halb abgerissen.
Noch immer sichtlich mitgenommen wagte Oita, von seinem Prüfer wegzuschauen und nachzusehen, wo er die beiden überhaupt hingebracht hatte. Eine kleine Wohnung im selben Viertel wie die anderen beiden, so schien es. Sein Blick kehrte zum stillen Prüfer zurück.
"Botschaft angekommen, Senpai", brachte Oita grade so heraus, bevor er sich unter großen Mühen zu unbeeindruckender, aber voller Größe aufrichtete, Sabber und Tränen aus seinem Gesicht wischte und dann ein breites Grinsen aufsetzte. "Meine Prüfung, mein Problem, schon verstanden."
Aber verdammt, das hätt er ja auch einfach sagen können. Andererseits… War das schon beeindruckend. So schnell… Alleine wäre er sicher längst fertig.
Als würde er sich nun auf seine Arbeit konzentrieren, drehte sich Oita zum Garten der kleinen Wohnung um, sah jedoch immer wieder auffällig unauffällig zu seinem Prüfer hinüber.
Wenn einer so schnell rennen kann, dann kann er sich auch so ziemlich alles erlauben, unsichtbar oder nicht. Vielleicht… Ech, nein, zu anstrengend. Oder?
Von der Aussicht auf ehrliches körperliches Training abgeschreckt widmete sich Oita nun tatsächlich der vor ihm liegenden Aufgabe, doch die wirkte auch nicht sonderlich erholsamer. Denn obwohl der Junge erst jetzt bemerkte, dass das Ding, an das er sich gelehnt hatte, ein kleiner hölzerner Karren war, also so ziemlich genau das, woran es den beiden Umzugshelfern gemangelt hatte, sah Oita doch im selben Moment das zweite und möglicherweise viel größere Problem vor sich: den Hausrat ihrer Auftraggeberin.
Es sind keine zigtausend Kleinteile, ok, aber irgendwie… hmm.
Etwas unentschlossen schaute Oita die Kiste an, die da im Garten stand. Denn mehr war es tatsächlich nicht: Eine einzelne Kiste, gefertigt aus dunklen Holzbrettern, die nahtlos aneinander gefügt worden waren. Allerdings anders als beispielsweise Kisten für Obst, eine Schatztruhe oder der handelsübliche Umzugskarton maß diese Kiste ganze zwei Meter in jede Richtung und überragte Oita damit deutlich. Zudem war sie auf den ersten Blick gerade ein paar entscheidende Zentimeter zu groß, als dass man sie auf den Karren hätte wuchten können.
Und ins Treppenhaus in der neuen Wohnung passt das Teil auch nicht. Naja, wenn wir Glück haben wird’s genügen, es in den anderen Garten zu schaffen. Aber bei der Auftraggeberin auf Glück zu hoffen…
Oita verzog das Gesicht, näherte sich der Kiste und berührte das Holz. Es war glatt und zeugte von echter Handwerkskunst, vor allem weil es wirklich keinerlei Fugen aufwies, durch die ein neugieriger Ninjaschüler ins Innere hätte blicken können.
Probeweise ging Oita in die Knie, suchte nach einer greifbaren Kante, presste seine Finger unter die Kiste und übte ein bisschen Kraft aus. Dann ein bisschen mehr. Und noch ein wenig. Kurz, bevor sein Rückgrat aus seinem Körper zu springen drohte, gab er auf, Kopf rot, Stirn schweißnass.
Großartig. Eine riesige Kiste, die vermutlich doppelt soviel wiegt wie der gesamte Hausrat des Riesen zusammengenommen. Toll. Das hat gerade noch gefehlt.
Niedergeschlagen torkelte Oita zurück und plumpste wie von selbst auf seinen Hosenboden. Den Blick auf die Kiste gerichtet fing der Junge erneut damit an, leise zu murmeln:
"Als ob der andere Kram nicht gereicht hätte. Jetzt haben wir auch noch dieses Ding am Hals. Das krieg ich nie und nimmer gelupft. Wahrscheinlich bleibt uns nix anderes übrig, als das Teil aufzumachen und auszuräumen."
Mit einem kleinen Schimmer Hoffnung im Gesicht stand Oita wieder auf, umrundete die Kiste, suchte nach irgendeiner Art von Öffnung und fand… Eine einzelne Fuge, über die irgendjemand eine ganze Menge Siegel geklebt hatte. Keine Ninjasiegel, sondern schlichte Klebezettel, die mit ihren leuchtend roten Ausrufezeichen ganz deutlich eines riefen: "Hier nicht aufmachen!".
"Soviel dazu."
Nachdenklich nahm Oita ein paar Schritte zurück, steckte die Hände in die Hosentaschen und legte den Kopf schräg. Außenstehende mochten denken, dass Oita seinen Grips anstrengte und intensiv darüber nachgrübelte, was zu tun war. Der Teil kam allerdings erst später, denn für gute zehn Minuten stand Oita einfach nur da und dachte… nichts. Er schaute lediglich ratlos aus der Wäsche und dachte einfach gar nichts.
Erst ganz, ganz langsam formten sich in seinem Dickschädel frische Gedanken. Na gut. Na schön. Keine Panik. Noch hab ich alles im Griff. Ich brauch jetzt halt zwei gute Ideen anstatt einer. Kein Ding. Wir haben jetzt einen Wagen. Das macht viel aus. Mein Prüfer hilft mir nicht, aber hey. Kein Problem. Alles in Ordnung. Da sind ja nur zigtausend blöde Fanartikel und eine verdammt schwere Geheimkiste, die man irgendwie von A nach B bringen muss. Nein, nicht "man" – ich. Der kleinste Kerl, den sie finden konnten. Großartig, Leute. Super Missionseinteilung, ganz ehrlich. Läuft das eigentlich immer so? "Hmm, wir brauchen jemanden, der ein Schiff bewacht. Hey, ich weiß, dieser eine Kerl der nicht schwimmen kann! Ja, großartige Idee!" Ugh. Mistiger Job.
Oita rieb sich die Stirn, atmete durch und seufzte. Hat ja alles keinen Wert. Zurück zum Zeichenbrett. Also dann…
Doch egal, wie Oita anschließend nachdachte, es kamen ihm nur die immer gleichen Ideen in den Sinn, von denen keine so wirklich hinhauen zu wollen schien. Und was noch schlimmer war: Während sich Oita so seine Gedanken machte, platzte schlagartig die Präsenz seines Prüfers zurück in sein Gedächtnis.
Argh, da war ja was! Das hier ist immer noch eine Prüfung, und so wie's aussieht… Oita schaute zum Himmel, wo die Sonne strebsam in Richtung Höchststand wanderte. Nein, die Zeit hat net angehalten. Schade. Kann wahrscheinlich froh sein, dass mich Senpai überhaupt so lange nachdenken gelassen hat.
Missmutig ließ Oita einen letzten Blick über den Vorgarten schweifen, bevor er die Augen zumachte und sein schweres Haupt auf seinen Arm stützte.
Na schön, na schön. Ein Plan muss her. Was kann ich machen? Irgendetwas Schlaues! Ja, wenn's denn nur so einfach wäre! Ich... Ich muss auf Zeit spielen! Natürlich! Aber wie? Naja, notfalls… Oitas Stirn legte sich in Falten. Nein. Nicht schon auf der ersten Mission! Wie sieht das denn aus! Aber bleibt mir denn etwas anderes übrig? Seine Unterlippe fing an zu zittern. Aufgeben. Das ginge. Aber... argh! Wenn ich durch die Prüfung rassle, machen mir Oma und Opa sicher die Hölle heiß...! Oita schüttelte den Kopf. Nein. Von wegen! Schön wär’s! Die beiden werden nicht wütend sein! Die werden mich trösten und heimlich, still und leise enttäuscht sein! Nicht mit mir! Sein Körper entspannte sich leicht. Aber das heißt… Hmm. Hmpf! Na schön! Es führt wohl kein Weg daran vorbei! Dieses eine Mal! Genau! Das ist eine Ausnahme! Wegen der Prüfung! In Zukunft gibt’s schließlich Teammitglieder, hinter denen man sich verstecken kann!
Oita atmete tief ein und aus, streckte die Arme zu beiden Seiten von sich, und stemmte dann die Hände in die Hüften, bevor er zu Jirokou hinübersah.
"Übrigens, Senpai, das vorhin war echt nicht nett! Dein Plan, unserem verehrten Auftraggeber eine leere Schriftrolle in die Hand zu drücken und heimlich, still und leise seinen wertvollen Krams irgendwo loszuwerden, war ein wirklich mieser Versuch, mich auf's Glatteis zu führen! Andererseits hast du mir auch vorgeführt, worauf es heute wirklich ankommt, weshalb ich dir ausnahmsweise verzeihe."
Mit theatralisch-übertriebenen Bewegungen griff Oita an die Träger seines Rucksacks, riss sich das Gepäckstück vom Leib und pfefferte es zu Boden. Dann schlüpfte er aus seinem T-Shirt, verknotete es zu einer merkwürdigen Kopfbedeckung, die er sich wie eine Krone auf die Stirn setzte, und schlüpfte aus seinen Sandalen, die er in entgegengesetzte Richtungen davon schleuderte. Schließlich ließ er seine Schultern kreisen und begab sich vor dem kleinen Wagen in Stellung.
"Heute nämlich sind keine schlauen Pläne angesagt, zumindest nicht nur. Denn was dieses Ding hier angeht…" Oita zeigte auf die gewaltige Kiste, "…werde ich mir unterwegs was einfallen lassen, darauf kannst du wetten. Nein, heute kommt es auch auf Muskelkraft an. Auf Ausdauer. Auf ehr-" Die Worte blieben Oita im Hals stecken. "Auf ehrl-… ehrliche…!" Der Junge musste regelrecht würgen, um seinen Satz zu Ende zu bringen. "Ehrliche Ar-… Ar-…!" Oita hob die rechte Faust und schlug sich einmal kräftig gegen die Stirn, wo ein roter Abdruck sogleich zeigte, dass er wirklich so einiges an Energie in den Hieb gesteckt hatte. "Auf ehrliche Arbeit! Darauf kommt es an!"
Und mit diesen Worten packte Oita die Leitstangen des Karrens und zog. Er zog, dass sich wortwörtlich die Balken bogen, doch der Wagen bewegte sich nicht vom Fleck. Oitas Kopf lief rot an, Schweiß explodierte auf seiner Stirn, seine Lippen kräuselten sich und zeigten zusammengebissene Zähne… Und dann, mit einem Mal, stoppte der Junge. Er senkte den Kopf, umkreiste den Wagen, bückte sich, zog die hölzernen Stopper von den Rädern des Wagens, welche er vorhin gesehen, aber nicht wirklich beachtet und deshalb längst wieder vergessen hatte, kehrte zurück zum Kopf des Wagens, zog und... rollte langsam vorwärts.
"Ehrliche Arbeit…", murmelte er dabei ein weiteres Mal und machte sich schnurstracks auf zurück zur ersten der drei Wohnungen.
Und tatsächlich: Oita arbeitete. So richtig. Mit seinen eigenen Händen. Klar grummelte der Junge und zeigte eine Visage wie nicht nur drei Tage oder gar Monate, sondern mindestens drei Jahre Regenwetter, aber er arbeitete. Er zog den Karren zur Wohnung des Auftraggebers, packte allerlei Ninja-Fanartikel hinein, achtete dabei sogar darauf, keins der Objekte zu beschädigen, und machte sich dann auf den Weg zur neuen Wohnung des Pärchens. Dort entlud er den Wagen fein säuberlich, bevor er sich auf den Rückweg machte, den Wagen erneut füllte, und so weiter und so fort.
Von den ungleichen Hausbesitzern gestört wurde Oita dabei übrigens nicht. Noch nicht. Denn während Oita sich alle Mühe gab, nicht nur den ganzen Kram von einer Wohnung zur anderen zu schaffen, sondern sich dabei auch noch allerlei Gedanken darüber machte, wie sich die Kiste der Frau sinnvoll transportieren ließ, stürmte die in genau diesem Moment zurück zu ihrer alten Wohnung. Auf der Suche nach den Umzugshelfern fand sie allerdings nicht Oita, sondern Jirokou.
"Hey!", blaffte sie den Ninja an, "Wie lange dauert das dann noch? Arbeitest du überhaupt? Und wo steckt dieser andere Knilch? Ich hab eben gesehen, dass irgendeiner von euch den Rasen vor unserer neuen Wohnung mit Wagenspuren verunstaltet hat! Gnade euch Gott, wenn einer von euch das war! Dem werde ich den Kopf abreißen, das sag ich dir!"