Mari stockte. Zuerst wechselte ihr leicht verwirrter Blick zu Hei, der sich prompt verschluckt hatte, zuerst in die Armbeuge hustete und dann zum lebensrettenden Wasser griff. Eh... Die Hyuuga hatte noch nicht ganz verstanden, da ließ Joudan plötzlich sein Besteck lautstark scheppernd auf seinen Teller fallen, warf theatralisch die Hände in die Luft und bat fast schon verzweifelt darum, ihn nicht mit seinem Titel aufzuziehen. Okay, also nur um das klarzustellen: Mari hatte das gar nicht witzig gemeint. Und hatte auch niemanden aufziehen wollen... die junge Frau hatte nur den Titel aufgreifen wollen, den die Bediensteten verwendet hatten. Oh und es hatte auch wirkliches Lob dahintergesteckt, denn Mari glaubte nicht, dass Joudan mit seinem Vermögen darauf angewiesen gewesen war, selbst zu kochen. Die Hyuuga waren das immerhin auch nicht – mit weitaus weniger Geld im Hintergrund. Die 20-Jährige schien jedoch zum allgemeinen Amüsement beigetragen zu haben und verkniff sich den Drang, sich am Hinterkopf zu kratzen, denn das wäre zu offensichtlich gewesen. Sie stand mit Sicherheit besser da, wenn sie so tat, als wäre es wirklich ein Witz gewesen, oder? Während Hei sich noch die Lachtränen aus dem Augenwinkel wischte, hob sich der rechte Mundwinkel der Kunoichi zu einem schiefen Grinsen an. Sie hob entschuldigend die Hände und spielte einfach mit:
„Na gut. Ich werde versuchen, mich zusammenzureißen, Joudan-san“, bat sie ihm an und hoffte insgeheim, dass ihre Überrumpelung damit gut überspielt worden war. Da auch der Tatsumaki das Essen gelobt hatte, erzählten die Kushou-Geschwister, wie Joudan zu seinen Kochfähigkeiten gekommen war. Und die Erzählung berührte sogar ein wenig das Herz der Hyuuga, die sonst doch versuchte, ihre Abwehr möglichst oben zu halten. Diese herzliche Geschwisterliebe traf Mari aber auch einfach an einem wunden Punkt. Und dann auch noch die Ähnlichkeit zu Aiko – ganz fair war das nicht. Als hätte Joudan es gewusst!
Als Hei nach einem Nachtisch fragte, horchte Mari erneut auf. Scheinbar überfallen von der Frage, gab der Blonde zu, keinen Nachtisch vorbereitet zu haben. Aber natürlich gab es im Anwesen noch Früchte und... Eis? Oh. Wann hatte die Hyuuga das letzte Mal ein Eis gegessen? Eine dieser Kleinigkeiten, die sie als Kind ebenso wie alle anderen Kinder geliebt hatte, aber irgendwann im Alltagsstress vergessen hatte. Der Gedanke war durchaus reizend... und ehe Mari etwas sagen konnte, war der Kushou bereits verschwunden, um die Süßigkeit zu besorgen. Am Tisch übrig blieben Hei, Mari und Joudans kleine Schwester Rin. Hm. Die grünen Seelenspiegel sahen einen Moment zu der jüngeren Kushou, die ebenso wenig wusste, was sie nun sagen oder tun sollte. Ein wenig schneller als Rin kam Mari der Gedanke, dass Joudan es bewusst so eingefädelt hatte, um zu zeigen, dass er den Shiro-Nin vertraute. Immerhin konnte sie sich gut in ihn hineinversetzen, glaubte sie zumindest, wenn sie an sich selbst und Aiko dachte. Der Gedanke, Aiko mit ein paar Sora-Nin alleinzulassen, war vollkommen abwegig. Und das leider noch immer vorhandene Misstrauen in ihr gegenüber der anderen Fraktion machte es gar unmöglich für die 20-Jährige, sich auch nur vorzustellen, dass es anders sein könnte. Und doch wagte Joudan diesen Schritt, als sei er überzeugt, dass Mari und Hei seiner Schwester kein Haar krümmen konnten. Naja, er hatte nicht Unrecht. Und doch war es ein besonderer Vertrauensbeweis, der die Hyuuga zunehmend ins Grübeln brachte.
„Ihr... wollt nicht?“, wiederholte die junge Frau, als Rin plötzlich wieder zu Sprechen begonnen hatte. Zuerst war sie sich nicht sicher, wohin die Aussage der Jüngeren führte. Sie wollten nicht in den Dienst ihres Dorfes treten? Aber sie waren dabei, genau das zu tun. Joudan musste sogar bereits einen Eid für sein Dorf abgelegt haben, immerhin war er Shinobi. Die Hyuuga wechselte einen kurzen Blick mit Hei, um zu erfahren, wie er von dieser neuen Information dachte. Es war nicht vollkommen verwunderlich, Joudan hatte sich bisher immerhin nicht so verhalten, als wäre ihm Sora, die Geschichte Soras, die Beweggründe seiner Fraktion oder auch der Konflikt mit Shiro besonders wichtig. Es war ein merkwürdiger, irgendwie fremder Gedanke. Jemand, der einen Eid auf sein Dorf schwor, den er aber eigentlich gar nicht zwangsläufig halten wollte. Als wäre es ein Mittel zum Zweck. Mari war in einer Welt großgeworden, in der ein Eid wichtig, fast schon heilig war. Es war eine altmodische Welt, keine Frage. Und vor allen Dingen nicht die Welt eines Händlers. Sie nickte Rin zu, noch bevor Joudan wieder zurückgekommen war.
„Keine Sorge, das bleibt unser Geheimnis“, versprach sie der Kushou-Tochter und ehe sie sich versah, hatte sich doch ein Lächeln auf das Gesicht der Braunhaarigen geschlichen.
„Danke... für das Vertrauen.“ Das schlechte Gewissen meldete sich, kaum dass ihr das letzte Wort über die Lippen gekommen war.
Dann war Joudan wieder da. Und der Nachtisch, den er mitgebracht hatte, sah wirklich gut aus. Erdbeeren, Schlagsahne und ein riesiger Berg Eis. Mari fühlte sich zurückversetzt in ihre frühe Kindheit, in der sie das Eis mit großen Augen bestaunt hätte. Es fühlte sich gut an. Richtig. Und die Hyuuga merkte, wie die innerlich hochgezogene Mauer zu bröckeln begann – was sich zum Beispiel darin zeigte, dass sie gerade nicht
einen einzigen Gedanken daran verschwendete, dass das hier noch ein Schauspiel sein könnte. Ein Trick. Das war wirklich viel Wert, wenn man mit der Hyuuga zu tun hatte. Sie hatte den Blick noch gar nicht vom Eis abgewandt, sogar schon eine Schale gefüllt und griff gerade nach den Erdbeeren, als Joudan seine Frage stellte. Und abrupt kam Mari ins Stocken.
„... wie unglaublich ärgerlich...“, meinte er kühl, mit einem leichten, unterschwelligen Beben in der Stimme, das er stark zu unterdrücken versuchte. Seine Wut hatte hier und heute nichts zu suchen. „Da sehen wir uns wieder... und ich kann dich... nicht einfangen... nicht einmal töten...“
...
Sie war zuerst benommen, riss dann jedoch die Augen auf, als sie bemerkte, dass die Finger des Kerls immer näher kamen. „Wenn der Clan schon solch ein Vermögen für ein funktionierendes Byakugan ausgeben würde... wie sieht es dann erst mit einem anderen Land aus? Wenn wir es beispielsweise an Soragakure verkaufen.“ Der Blick Shujis wechselte nach und nach in das eines völlig Irren, das Grinsen unterstützte dies und tatsächlich landeten seine Finger um das rechte Auge der Braunhaarigen.
Erinnerungen prasselten auf die Braunhaarige ein. Dinge, die so lange her waren, sie aber nie so richtig hatte vergessen konnte. Geschehnisse, die ihr Bild von Soragakure und den Menschen dort geprägt hatten. Man sah einem Hyuuga für gewöhnlich sofort seine Herkunft an. Ein Gegenüber wusste, dass ein Hyuuga fest verankert war mit Konoha, dem Feuerreich und eben auch mit Shirogakure. Gleichzeitig wusste man sofort, dass die Hyuuga zu den talentiertesten Kämpfern des Shiroverbundes zählten... weshalb Mari sich in der Vergangenheit oft als Zielscheibe für Sora gesehen hatte. Oder auch als mögliche Opfergabe an Sora, wie Hei sogar schon selbst miterlebt hatte. Mari riss sich zusammen, fischte mit kurzer Verzögerung doch noch nach der Erdbeere, die sie hatte erlangen wollen und stellte die Schale mit dem Nachtisch vor sich auf den Tisch. Sie zögerte, sah dann auf und direkt zu Joudan. Er wusste nicht, dass sie eine Hyuuga war. Und wenn er es wüsste, würde er anders agieren als bisher? Ihren Erfahrungen nach musste man sich gerade als Hyuuga vor Sora-Nin in Acht nehmen. Die junge Frau war großgeworden mit Geschichten, in denen Mitglieder ihres Clans gezielt attackiert worden waren und nicht selten hatte man davon gesprochen, dass es ein geheimer Angriff der feindlichen Fraktion gewesen wäre. Selbst, wenn das nie endgültig hatte bewiesen werden können. Aber dann erinnerte sich die Braunhaarige an die Gastfreundschaft des Blonden, an das, was er gesagt hatte. Und an das Geheimnis, das Rin ihnen anvertraut hatte. Und seine offensive Frage respektierte Mari und verstärkten das Gefühl, dass sie dem Kushou Unrecht damit tat, ihn einfach gleichzusetzen mit den schlimmen Dingen, die sie gehört, vielleicht auch zum Teil erlebt hatte, nur weil er zufälligerweise eine Person war, die in den Sora-Verbund hineingeboren worden war.
„Entschuldigt, ich musste ein wenig über die Frage nachdenken“, gab die junge Frau dann offen zu, nachdem sie ihre Sprache wiedergefunden hatte.
„Sora hat schon immer eine Bedrohung für mich dargestellt. Für mich und meine ganze Familie.“ Das Byakugan als Trophäe. Aber auch als mächtiges Bluterbe, das man sich selbst einverleiben konnte, wenn man nur einen Hyuuga des Haupthauses erwischte. Ihre Stimme klang sehr ernst.
„Daher fällt es mir sehr schwer, dieses Detail zu ignorieren. Als ich heute hergekommen bin, habe ich auch nicht viel mehr als das in Euch gesehen: Ein Sora-Nin. In Badehose.“ Ein winziger Hauch eines amüsierten Lächelns auf ihren Lippen, das aber schnell wieder verschwand. Sie dachte einen Moment länger darüber nach, dann wandte sich ihr Blick unwillkürlich auf Rin.
„Aber ich muss zugeben, dass es mir immer schwerer fällt, daran zu denken, dass Ihr ein Sora-Nin seid. Und eben habe ich mich sogar dabei erwischt, wie ich es für einen kurzen Augenblick vergessen habe.“ Ja, es war ein merkwürdiges Gefühl. Aber sie wollte Joudan und auch Rin nicht anlügen. Sie sah wieder zu Joudan.
„Ich habe großen Respekt, mit welch einem Vertrauensvorschuss Ihr in dieses Treffen gegangen seid. Und ich sehe, dass Ihr es ernst damit meint, unser Vertrauen gewinnen zu wollen.“ Mari atmete einmal durch, bevor sie sich sagen hörte:
„Ich möchte versuchen, Euch zu vertrauen. Und Euren Beruf als Sora-Nin nebensächlicher zu betrachten.“ Und so, als wollte sie ihre Worte unterstützen, formte sie unter dem Tisch ein Fingerzeichen, allmählich wich die grüne Farbe aus ihren Augen, bis nur noch helle Seelenspiegel in reinem weiß übrigblieben. Vielleicht erinnerte sich Joudan daran, wie Mari beim Wettkampf in Kurobu scheinbar durch Rauch hatte sehen können. Sollte ihm das Byakugan auch nur im Entferntesten ein Begriff sein, hätte er damit eine Erklärung gefunden.