Es stimmte also, dass Kana immer mit einem Hund zusammen unterwegs war. Auch kein alltäglicher … alltägliches Verhalten. Sie wirkte recht freundlich. Keine besonders hervorstechende Frau, sah man von dem Hund ab. Anscheinend hatte Rikuren recht behalten und es war eine Wiederholungsstunde. Warum war er also hier? Er hätte irgendwas Spannenderes oder etwas Entspannendes machen können. Aber! Er durfte nicht bei der Geninprüfung durchfallen und er allein für seine zwei Schwestern und Miu musste er lernen! Auch wenn das nicht gerade immer die interessanteste Angelegenheit war. Auch wenn er gerade wirklich ein wenig las, hörte er der Lehrerin zu und vernahm, wie sie nach einer kurzen Pause das Thema verkündete. Warum hatte sie eigentlich eine Pause gemacht? Egal, ihr Thema hieß Chakra und ungewollt dachte er darüber nach, während er weiter das Buch las. Bei seinem Sitznachbarn hatte er sich zuvor noch bedankt. Irgendwie hatte das Niesen etwas Belustigendes gehabt. War das merkwürdig? Vermutlich ein bisschen. Aber es war, wie es war. In der Reihe hinter ihm saß ein gutes Beispiel dafür, dass er hier nicht alleine war, sollte er wirklich merkwürdig sein. Der Freund des Jungen versuchte anscheinend normal zu sein, aber das Mädchen direkt neben Masaru hingegen war wieder etwas anders. Zum einen war da bisher die Kapuze, in welcher sie sich verbarg. Das zum anderen dürfte bei ihr schon bald folgen, aber noch bemerkte Rikuren es nicht. Zumindest ordnete er es ihr nicht zu. Kurz... aber wirklich nur kurz blitze etwas anderes auf. Eine kleine Bewegung des Mädchens... aber nein, das reichte noch nicht um etwas zu vermuten oder darüber nachzudenken. Das Einzige, was sie bisher tat war... nichts. Zumindest äußerlich. Ob er ihr ein Schlaflied singen sollte? Sicherlich war die Frage nicht ganz erst gemeint, aber wieso eigentlich nicht? Für Miu würde er es vermutlich sogar wirklich tun. Man müsste nur nett genug sein. Ein amüsanter Gedanke. Und passend noch dazu, Rikku wirkte nämlich nicht so, als würde sie aufpassen wollen. Eigentlich würde er dem ganzen gar nicht so viel Aufmerksamkeit schenken, würde er sich nicht so von ihr beobachtete fühlen. Könnte er Gedanken lesen, hätte er vermutlich erwidert, dass Blindheit aber nicht vor Gesprächen schützte. Nur vor aufgeregten Künstlern, die einem all ihre Kunst zeigen wollten. … Und zu einem großen Teil vor Arbeit. Nicht vor Hausarbeit, sondern vor Arbeit in Soragakure, denn, was Blinde anging, war fast die komplette Stadt ein totales Intelligenztief (und Hilfsbereitschaftstief). Vorurteil? Nein! Trauriger weise Clangeschichte... Es schützte also vor Arbeit, was irgendwo dann doch wieder zum faulen Rikuren passte. Ironie des Schicksals?
Natürlich war Rikurens Aufmerksamkeit aber bisher nicht nur bei Rikku und Masaru. Während die anderen ihren Blick durch die Klasse gingen ließen, hörte der Yamada einfach mal irgendwo hin. Zum Beispiel waren da in einer Ecke zwei Schüler, die lieber Karten spielten, anstatt dem Unterricht zu folgen. Zwei weiter vorne diskutierten über das Thema und berieten sich, was sie antworten sollten. Als Masaru unaufgefordert antwortete schimpften diese sofort: „
Kannst du dich nicht melden?“ Eine der schimpfenden Personen fügte sogar an
„...wie ein normaler Mensch.“ Bei dieser Aussage hätte Rikuren sogar beinahe gelacht. Leise und bissig kommentierte er es mit:
„Dann brauche ich mich nicht zu melden?!“ Da das Mädchen den Jungen kannte, schwieg sie sofort und wandte sich stillschweigend wieder nach vorne. Von dem bekam aber sonst keiner etwas mit, da die Worte ruhig und nur für das Mädchen gedacht gesprochen waren. Normal? Denn Versuch so zu sein hatte Rikuren schon vor langer Zeit aufgegeben, falls dieser überhaupt existiert hatte. Musste er überhaupt normal sein?
Leise summte Rikuren bei all diesen Gedanken eine kleine Melodie und sang sogar teilweise den dazugehörigen Text, aber selbstverständlich wirklich nur so leise, dass es der Lehrerin nicht auffallen würde. Aber dank dem glorreichen Beitrag von Masaru würde davon wahrscheinlich sowieso niemand etwas mitbekommen, bis der rothaarige verstummt. Rikuren klappte irgendwann sein Buch zu und war sehr nicht erfreut, als Masaru dann auch noch anfing immer lauter zu werden. Auch wenn die Frage nicht an ihn gerichtet war, antwortete der Yamada gedanklich:
„Tai ist stumpfes Chakra und Kraft ausstoßen? Wieso gibt es dann Körperbeherrschung? Und Taijutsustile die auf Geschwindigkeit oder Geschick bauen. Oder noch nie gesehen... als angehender Ninja. Zum Chakra bleibt nur das medizinische Taijutsu aus Soragakure zu erwähnen. Elementarchakra. Und... den Rest habe ich vergessen. War da überhaupt noch etwas?“ Verwundert dachte Rikuren darüber nach, ob er wirklich irgendwas vergessen hatte und ihm zuvor noch auf der Zunge gelegen hatte. Eigentlich hatte er kein Problem mit dem, was der Mitschüler da vorgetragen hatte, aber wie er es vorgetragen hat, war ein wenig stürmisch und zudem... war der Junge relativ offensiv gegen Taijutsu gewesen und Miu gehörte nun einmal zu den Personen, die genau das benutzten. Und ein Lehrer, den er dank dem Mädchen kennengelernt hatte, war ebenfalls Taijutsuka gewesen. Und diese Person war beeindruckend gewesen. Jedes mal wenn Rikuren eine Schwachstelle bei ihm gefunden hatte, hatte dieser ihn einfach mit der Schwäche angegriffen … und besiegt. Am allerwichtigsten aber war, er hatte lustig unterrichtet! Zuletzt ist so eine Frage „Beeindruckt?“ auch sehr einladend dazu einfach mal das Gegenteil zu sagen. Bei Masaru wäre es ja nicht schlimm, dem mangelte es augenscheinlich nicht an Selbstvertrauen, auch wenn dies natürlich nur so aussehen konnte. Bisher wirkte es keinesfalls so, als wäre da was komplett anderes verborgen. Das er selber das alles wusste lag außerdem auch nur daran, dass er es momentan dauernd im Unterricht hatte und teilweise auch sehr interessierte. Wie schnell Rikuren all das wohl wieder vergessen würde nach der Akademie? Er konnte sich nicht so sehr verstellen, dass er das alles behalten würde. Wie viele der schon mit ihrer Geninprüfung fertigen Ninja all diese Sachen wohl noch wussten?
Rikuren spielte mit dem Gedanken, das Gedachte ebenfalls vorzutragen, aber etwas lenkte ihn ab, bevor er weiter deswegen überlegen konnte. Er hörte, wie etwas zu Boden fiel und auf diesem noch ein Stück weit auf ihn zurollte. Der Yamada hatte nicht ganz mitbekommen, wo der Stift stehen geblieben war, also nutze er einen einfachen, aber sehr effektiven Trick. Der Junge griff mit einer wischenden Bewegung nach dem Stift und hatte so deutlich mehr Spielraum, um daneben zu greifen und trotzdem das Gesuchte in die Hände zu kriegen. Rikuren hätte auch warten können, bis er hört, wo das Ding liegt, aber da es einige Dinge zwischen Ohr und Stift gab und er sofort reagiert hatte, war dies die schnellere Variante. Wie kam das Mädchen eigentlich dazu ihn Leseratte zu nennen? Immerhin war er blind und die Anzahl der Bücher in Blindenschrift hielt sich leider in Grenzen. Aber immerhin stimmte es so weit, dass, wenn er es konnte, er es gerne tat.
Lesen ist einfach schön und ruhig. Einfach mal ein wenig die Worte durch die Gedanken ziehen lassen, am besten, während man einfach irgendwo entspannt liegt. Aber zurück zu Rikuren, welcher gerade einen Stift aufgehoben hatte und diesen nun zuordnete. Dem Ort des Aufpralls nach... gehörte er dem braunhaarigen Mädchen in der Kapuzenjacke! Nun schien das Mädchen wieder in einen Zustand der teilweisen Abwesenheit verfallen zu sein. Dann staunte der Yamada aber nicht schlecht, als er merkte, dass diese Geräusche einer Maus nicht etwa irgendwo aus der Wand, einem anderen Raum oder irgendeiner Ecke des Klassenzimmers kam, sondern direkt von der Tasche Rikkus. Das Mädchen hatte also auch ein Tier bei sich. Wie kommt man wohl dazu eine Maus mit sich herumzutragen? Eine Frage, die ihn nun vermutlich erst einmal weiter verfolgen würde... Verfolgt von einer Frage wandte sich Rikuren also endlich komplett zu der Klassenkameradin um und gab ihr freundlich lächelnd den entflohenen Stift zurück. Er hatte einfach keine Chance. Es waren einfach zu viele Wächter hier.
„Du hattest etwas verloren“, sagte Rikuren dazu. Er ist blind? Ja das hatte das freche Mädchen gut erkannt... Wie bitte kommt sie auf die schwachsinnige und zudem auch noch beleidigende Frage, ob er blind sei? Hatte sie keine eigenen Probleme? Machte es ihr Spaß so etwas hervorzuheben und drauf rumzutrampeln?! Was erwartete das Mädchen nun? Ja, gute Frage, was war zu erwarten? Dass er böse war? Sie für dumm halten würde? Plump reagierte und sich beleidigt fühlte? Wer das erwartete, darf jetzt ruhig den Klassenraum verlassen, denn Rikuren blieb ruhig und behielt das freundliche Lächeln bei. Warum sollte es auch anders sein? Weil sie nachfragte, ob er blind ist? Ernsthaft? Der Yamada fühlte sich weder beleidigt noch verletzt. Noch war die Frage für ihn relativ neutral. Ruhig und freundlich antwortete der Junge ihr:
„Rikku? Ich heiße Rikuren.“ Eine lustige Namensähnlichkeit fand Rikuren. Einen kurzen Augenblick nur dachte er nach und sprach weiter:
„Ja. Ich bin blind. Du scheinst sehr aufmerksam zu sein und hast ein sehr ungewöhnliches Haustier.“ Der Junge hatte sich komplett zu ihr umgedreht, um ihr den Stift zu geben und saß deswegen nun anders herum. Für ihn änderte das zwar nichts im Moment, aber die Lehrerin oder die Mitschüler könnten das eventuell etwas unhöflich finden. Also sollte sich Rikuren wohl besser wieder umdrehen. Er tat es aber nicht. Wahrscheinlich empfand Rikuren das als deutlich weniger unhöflich. Neugierig legte er seinen Kopf leicht schief und fragte
: „Was hat dich darauf gebracht, dass ich blind bin?“ Immerhin blickte sie ihn noch nicht so lange an und es gab viele andere, die deutlich länger brauchten. Das Er gekränkt war wegen ihrer Frage konnte man ihm nicht ansehen, denn das war er auch nicht. Er war viel mehr neugierig und dachte über sein Gegenüber nach. Schleifen in den Haaren. Eine Maus in der Tasche. Irgendwas, was an der Bewegung ihrer Hände, ihres Körpers anders war, er aber noch nicht zuordnen konnte. Irgendwie erinnerte es ihn aber an sich selber. Was war es nur? Es verbarg sich vor ihm. Das sie seine Blindheit erkannt hat. Rikku war aufjedenfall interessant. Frage war nur, ob er mit der Schüchternheit und Zurückhaltung des Mädchens besser umgehen konnte und ob die Lehrerin irgendwas sagen würde, weil er „falsch herum“ saß.