„Ack!“
Oita zuckte zurück, als der Vorarbeiter der Länge nach vor ihm auf die Bühne fiel.
*Was zum… das hat sie jetzt net ehrlich getan, oder?*
Unsicher schaute der Knabe hin und her – zum Vorarbeiter, der wie K.O. vor ihm lag; zu Aryane, die ihr Opfer mit wütendem Blick anstarrte; zum Publikum, das stumm das seltsame Spektakel beobachtete – und hatte echte Schwierigkeiten, sich aus diesem Chaos einen Reim zu machen. Oita war ein Lausebengel, ein Quatschkopf und ein Unruhestifter, ja, aber das hier hatte längst nichts mehr mit einem unschuldigen Schuljungenstreich zu tun.
*Aryane schaut, als würde sie dem Kerl gleich an die Gurgel springen und das letzte bisschen Saft aus ihm herauspressen, wie aus einer Zitrone! Klar, der Typ war echt mies drauf, aber verdammt… Die ganze Zeit der Lakai dieser Leute sein zu müssen is sicher auch nicht lustig. Ganz zu schweigen davon, dass wir’s ihm nicht gerade leicht gemacht haben.*
Wie als wolle sie Oitas schlimmste Befürchtungen bestätigen, polterte Aryane auf die Bühne, prangerte die vermeintlichen Missetaten des Matrosen inbrünstig an und verkündete dann auch noch ihre Absicht, dafür sorgen zu wollen, dass die Reederei der Watanabe nie wieder Shinobi anheuerte.
*Verflucht… spätestens das wird super Ärger geben! Man kann doch nicht… warum so direkt… aber andererseits… arghl, hmm, njeeh…!*
Oita wand sich sichtlich und fühlte sich ungeheuer unwohl in seiner Haut. Irgendwo hatte Aryane ja Recht, aber irgendwo auch der Vorarbeiter, und dann war ja da noch Sora, und warum starrte dieses blöde Publikum ihn eigentlich so an, und was würde nur seine Familie sagen, und oh Mann warum isses plötzlich so heiß hier drin, und sowieso, und überhaupt, und, und…!
Wie bei einem in die Ecke gedrängten Tier setzten sich Oitas Fluchtreflexe stärker und stärker in Gang. Anstatt allerdings den Jungen von der Bühne zu treiben, bewegten sie seine Finger zu seiner Beintasche, wo sie panisch nach irgendetwas suchten, das Oita eine kurze verfluchte Verschnaufpause bescheren konnte. Als seine Fingerkuppen dann tatsächlich die glatte Oberfläche einer murmelgroßen Rauchbombe ertasteten, stieß Oita einen dankbaren Seufzer aus, riss das Ding aus der Tasche und brachte es mitten auf der Bühne zum Platzen.
Sogleich breitete sich dichter, schwarzer Qualm im Saal aus. Für einen kurzen Augenblick fürchtete Oita, die Passagiere könnten gleich kollektiv eine fiese Rauchvergiftung erleiden, doch glücklicherweise war der Saal groß genug, um die Chancen dafür relativ gering ausfallen zu lassen. Sehen allerdings konnten die Leute nichts, erst recht nicht, was auf der Bühne vor sich ging. Oita ging es da natürlich ähnlich, obwohl er zumindest gerade noch so den Oberkörper des niedergestreckten Vorarbeiters in seiner Nähe erahnen konnte. Ansonsten sah der Junge jedoch nichts als Rauch, was ihm allerdings alles andere als missfiel.
*Endlich ein bisschen Frieden. Aber was jetzt?*
Oita schürzte die Lippen, schaute zum Vorarbeiter, spähte dorthin, wo er eben noch Aryane gesehen hatte, warf einen Blick nach oben, unten, rechts und links und… seufzte.
*Also, Schadensbegrenzung die… Dritte? Vierte? Zehnte? Mal sehen… Der Vorarbeiter röchelt ein bisschen und richtet sich wohl bald auf. Das Publikum… ist still, also gibt’s noch keine Panik. Aryane… kann für sich selbst sorgen. Oder eben nicht. Unser Image war ja sowieso im Eimer, aber das grade… Wobei… Ugh, natürlich! Der älteste Trick im Buch!*
„Das werde ich nicht zulassen!“
Oita überraschte sich selbst, mit welch fester Stimme er plötzlich durch den Dunst brüllte. Gleichzeitig formte er das Fingerzeichen des Henge, verwandelte sich in den erstbesten anderen Ninja, der ihm einfiel, und hüpfte dann zum Vorarbeiter, um sich den schlappen Matrosen mühsam auf die Schulter zu hieven.
„Die Reederei Watanabe, der geschätzte Herr Vorarbeiter und alle hochverehrten Passagiere an Board stehen nämlich unter meinem Schutz!“
Während sich der Rauch bereits langsam verzog, zerrte Oita den angeschlagenen Vorarbeiter hinter die Bühne, ächzte schwer und rannte schließlich schnell zurück, um sich in einer tapferen Pose Aryane gegenüberzustellen – mit ausreichend und möglichst dramatischen Abstand.
Als das Publikum wenig später wieder etwas von der Bühne sehen konnte, fehlte von Oita und dem Vorarbeiter jede Spur. Stattdessen sah man einen größeren und etwas älteren, blonden Shinobi auf der Bühne, das Stirnband von Kirigakure fest um den Oberarm gewickelt und gekleidet in so ziemlich genau das, was sich 08/15-Sorabürger eben so unter einem Ninja vorstellen sollten: dunkle, tendenziell kurze Klamotten und die üblichen Accessoires wie Sandalen und Beintaschen. Für mehr fehlten Oita einfach Zeit und Kreativität. Ähnliches galt für sein falsches Gesicht, das zwar stark an das seines Senpais Shunsui angelehnt war, aber a) wollte er dessen Antlitz absichtlich nicht eins zu eins kopieren, um den älteren Shinobi nicht allzu sehr auf die Füße zu treten, und b) war es gar nicht so leicht, eine Person zu einhundert Prozent korrekt nachzubilden.
Jedenfalls stand Oita in seiner besten Möchtegern-Heldenpose da, eine Hand anklagend erhoben, die andere locker, aber allzeit bereit auf das Heft seines Schwertes gelegt. Sein Blick suchte und fand hoffentlich auch Aryane, andernfalls würde eben das Publikum Oitas gespielt strengen Blick ertragen müssen. Einen Preis für schauspielerische Künste würde der Knabe ja sowieso nicht bekommen, aber zumindest Leidenschaft konnte er in seinen Auftritt legen.
Aus entsprechend vollem Hals erklärte Oita deshalb: „Nun also zeigtest du dein wahres Gesicht, du, äh, Schuftin, du! So ward es nämlich von der weitsichtigen Verwaltung des Himmelsdorfs vorausgesehen, dass sich ein gar schurkiger Schurke der ver-… verda-… der schändlichen Gegenseite auf dieses Schiff, äh…“ Sichtlich den Faden aus den Augen verloren räusperte Oita sich heftig, bevor er fortfuhr: „...dass sich ein Spion von Shirogakure hier auf dieses Schiff schleichen würde, um die guten Beziehungen zwischen den Fraktionen zu stören! Genau, so war das nämlich! Die reichsten, schönsten und mächtigsten Bürger des Landes wollte man ausgerechnet auf dieser prächtigen Schifffahrt stören! Doch naraus wird nix, nicht, solange ich hier bin!“
Theatralisch übertrieben zog Oita sein Kurzschwert Muramasamaru und versuchte ungeschickt, das Licht im Saal in der Klinge zu fangen und einige der Passagiere kühn zu blenden, bevor er weiterredete: „Nun denn, Schurkin von Shirogakure! Stell dich mir zum Kampf, und gib dich deinem unausweichlichen Schicksal preis! Deinen dunkelhaarigen Kumpanen hab ich nämlich schon erledigt!“
…
…
…
Im Grunde fehlte nur noch der obligatorische Strohballen, der durch den Saal stolperte, oder das melodische Zirpen von Grillen – so begeistert viel die Reaktion des Publikums auf Oitas Laienschauspiel aus. Und doch… wie als käme es aus der letzten Reihe hörte man ein leise zeterndes „Yeah, Sora!“, das ganz offensichtlich von einem der Kinder an Board stammte. Ein anderer junger Passagier ließ sich davon anstecken und rief mit mädchenhafter Stimme „Buh, Shiro stinkt!“. Abseits dieser jugendlichen Leidenschaft blieb das Publikum allerdings vorerst still.
Kein Wunder also, dass Oita der Schweiß auf die Stirn schoss. Mit ein bisschen Hilfe seiner Partnerin ließ sich die Situation vielleicht noch retten… oder zumindest weniger peinlich gestalten. All ihre Missetaten wären auf einmal Absicht gewesen, ein von langer Hand geplanter Schachzug, die Passagiere gegen die „Feinde aus Shiro“ aufzuwiegeln, um den anstehenden Sieg des heldenhaften Sora-nin umso mitreißender zu gestalten.
Andererseits… vielleicht war Aryane der Job mittlerweile auch so egal, dass sie Oita lieber wie einen totalen Volldeppen dastehen ließ, den Vorarbeiter zurück auf die Bühne zerrte und fröhlich drauflos prügelte. Oita würde ihr das wie gesagt auch nicht verübeln können, aber…
Doch Moment. Wo zum Geier steckte Aryane eigentlich?