Ein schleifendes Geräusch war zu vernehmen und die Lichtquelle über ihnen, das Büro des bösen Professors, versiegte allmählich, während die überdimensionale Falltür wieder zuklappte. Zuletzt war nur noch ein kleines Aufblitzen des Lichtes zu sehen wie ein Hoffnungsschimmer, der nun für immer verlöschte. Bis zuletzt hatte der Kiyama nach oben geblickt und hatte in dieser Zeit nichts sagen können. Ständig fragte er sich, ob er hätte anders handeln sollen und ob er die Gruppe wegen seiner überstürzten Handlung in diese Lage gebracht hatte. Denn da waren sie nun: vier Abenteurer, die mit dem Betreten dieses unsäglichen Schlosses geradewegs in ihren Untergang gelaufen waren. Jetzt saßen sie in diesen dunklen Gewölben fest, ohne Aussicht auf Rettung und ominöse "Mitarbeiter" im Nacken. Und wer hatte diesen Ort als Reiseziel auserkoren: er, er allein. So tobten die verschiedensten Emotionen durch seinen Kopf und ließen ihn keinen klaren Gedanken fassen, während seine Weggefährten sich mühsam und, wie man lautstark hören konnte, mit einigem Ekel von dem allgegenwärtigen Dreck befreiten. Er war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er nicht einmal bemerkte, wie sich Mai ihm Schritt für Schritt näherte. Erst als sie ihre Stimme erhob und sich mit sanften Worten nach seinem Befinden erkundete, schaute Mura wieder auf. Nein, nein mir geht es... Der Junge war so schon nicht für seine Wortgewandtheit bekannt, aber jetzt folgte nur noch eine Abfolge von gestammelten Lauten. Zum einen war die schöne Mai so nah bei Mura wie kaum ein weibliches Geschöpf vor ihr, dann war zu seiner Überraschung keine Wut in ihren Augen zu sehen, sondern Fürsorge und ehe er noch das alles verarbeiten konnte, strich sie auch noch sanft mit ihrer Hand über seinen Hals. Was kann man?...wie...ab… Jede Berührung trieb ihm die Röte weiter ins Gesicht und ließ ihn die Augen niederschlagen. Vergessen waren seine vermeintlichen Fehler, vergessen ihre Lage, vergessen die zu rettende Prinzessin. Alles drehte sich jetzt nur um Mai und die zarte Haut, die über seinen Hals glitt. Mura war total benommen, realisierte gar nicht, was mit ihm geschah und verstand erst recht nicht die unschuldige Intention des Mädchens. Er spürte gar nicht die ekelhafte Schlammpackung auf der Haut, die Mai sorgsam um seinen Hals verteilte, schließlich bildete sich egal, wo sie ihn berührte, eine Gänsehaut. Warum tut sie das? Wa.. Seine wirren Gedankengänge wurden unterbrochen, als seine Gegenüber die schrottreife Kopfbedeckung mit beiden Händen ergriff und beherzt rüttelte und zog. Selbst als sich der verbeulte Helm endlich löste, war auf dem Gesicht des Kiyamas nur Irritation zu sehen. Vielleicht lag es daran, dass das ganze Blut von seinem Hirn in die Wangen gewandert war, aber es dämmerte ihm nur langsam, was hier gerade passierte. Obwohl es in den letzten Jahren nur wenige Situationen gegeben hatte, in denen der Junge nicht sein charakteristisches Lächeln aufgelegt hatte, war es dieses Mal wieder soweit. So blickte er das Mädchen noch immer mit offenem Mund an, während seine Hand langsam zu seinem Kinn wanderte und sein Gesicht betastete. Oh…ja…ähm…danke. Mura, du bist ein Idiot, schoss es ihm durch den Kopf, als er endlich verstand. Wie dumm er sich doch verhalten hatte. Zu seinem Glück musste er nicht lange dem Blick der Kunoichi standhalten, denn bald fand Mai den zwischen zwei Plattenteilen eingeklemmten Zettel. Mit aufgeregter Stimme teilte sie den übrigen ihre Entdeckung mit und wendete sich dabei von Mura ab, der auch prompt die Gelegenheit nutzte, um seine Fassung und damit sein lächelndes Pokerface zurückzugewinnen. Es hatte nichts zu bedeuten. Bleib ruhig.
Mit einem gewinnenden Lächeln und einem angedeuteten Nicken schloss er zu seinen Begleitern auf, die sich um das flackernde Licht einer Fackel versammelt hatten, um den Fluchtplan eingehender zu studieren. Doch, bevor der Kiyama ankam, hatte sich ein großer unförmiger Schatten von der Wand gelöst. Alles ging so schnell, dass dem Jungen keine Zeit blieb zu reagieren. Zu spät kam sein Warnruf, als eine riesige Pranke schon den ahnungslosen Minara packte und ihn nach hinten riss. Der Kumonin stolperte vorwärts und versuchte seinem Kameraden beizustehen, der sich mit rudernden Armen wehrte und doch keine reelle Chance hatte zu entkommen. Doch er war zu langsam: die Dunkelheit verschlang Ashizama, der den Jungen aus Kumogakure noch bis zuletzt mit aufgerissenen Augen anstarrte. Dann war es genauso schnell vorbei, wie es angefangen hatte. Kein Geräusch war von ihrem Gefährten oder dem seltsamen Monster zu vernehmen. Hätte Mai nicht auf dem armen Seishin gesessen und wäre nicht einer ihrer Kameraden verschwunden, Mura hätte, das eben Geschehene für einen Traum gehalten. So verfluchte er nun aber seine Rüstung, die ihn so sehr behindert hatte und wusste doch nicht, was zu tun war. Er sorgte sich um den Minara, war aber doch klug genug, um zu wissen, dass eine Verfolgungsjagd in dem fremden Tunnelsystem nur die ganze Gruppe gefährden würde. Während sich seine Gefährten zum zweiten Mal binnen weniger Minuten aus dem Morast erhoben, suchte Mura in dem schummrigen Licht nach dem Zettel und reichte ihn wieder der Dank Seishins unfreiwilliger Hilfestellung sauberen Mai. Doch kaum hatten sich beide aufgerichtet, entbrannte auch schon die Diskussion über das weitere Vorgehen.
Mai, es fällt mich auch schwer, aber die Gefahren sind zu groß. Wir sollten es aber auch nicht mit ihm allein aufnehmen, lasst uns lieber fliehen und d…den Ordnungsdienst des Landes verständigen. Mura war irritiert. Er hatte sich nie sonderlich mit den Daten und Fakten eines Landes auseinandergesetzt, bevor er zu einer Mission angetreten war. Aber die Tatsache, dass er dieses Mal so vollkommen im Dunklen tappte, besorgte ihn doch zusehends. Nicht das es etwas Bleibendes ist…Doch was sagte er da? Ein Kamerad war verschwunden und er machte sich Sorgen, weil er nicht wusste, wie die Exekutive dieses Landes zu benennen war. Schämen sollte er sich und lieber schnell Hilfe holen, bevor dem Minara noch etwas passierte.
Sie waren schon einige Zeit unterwegs. Seishin lief neben Mai her und spendete ihr mit einer Fackel Licht, damit sie ohne Probleme den doch recht komplizierten Plan entziffern konnte. Das Ende der Gruppe bildete Mura, der immer wieder in die schwarze Unendlichkeit hinter sich blickte. Er merkte, wie ihm der Schweiß den Rücken herablief. Die Ungewissheit, ob ihnen nicht doch hinter irgendeiner Ecke ein „Mitarbeiter“ des Kannibalen auflauerte, zerrte an seinen Nerven. Den Gedankengang, ob nicht doch die Karte den einen oder anderen Fehler vorweisen könnte, wollte er gar nicht erst weiterspinnen. So kämpfte sich das Trio quälend langsam durch das Labyrinth der Gänge, während ein Fiepen oder Grunzen aus einem der „toten“ Gänge sie immer wieder anhalten ließ. Doch Strampeldohr hatte seine Hausaufgaben gut gemacht, denn nach gefühlten Ewigkeiten erreichten sie unbeschadet eine Falltür. Sie hatten also doch den ersehnten Ausgang gefunden. Mura konnte es kaum erwarten, dieser Todesfalle zu entkommen, und wartete ungeduldig darauf, dass Mai und Seishin durch die kleine Öffnung krochen.
In dem Moment aber, als er sich hochstemmte und die alles andere als erfreuliche Stimme des gruseligen Tantalus vernahm, wünschte er sich beinahe in das Loch zurück. Aber sie hatten keine Wahl. Der Plan hatte nur einen einzigen Ausweg beschrieben und der hatte sie ausgerechnet in die Arme ihres Widersachers geführt. Wäre ja auch langweilig, wenn es einfach wäre… Außerdem waren die beiden Kumonins nicht gerade schlecht ausgebildet und vielleicht konnte Seishin auch noch etwas zu ihrem Sieg beitragen. Trotzdem erhob sich Mura mit einem mulmigen Gefühl und ein unaufhörliches Zucken hatte seinen rechten Mundwinkel befallen, ein untrügliches Zeichen wie nervös er war.
Obwohl die langgestreckte Halle einen atemberaubenden Anblick bot, schenkte der Junge den riesigen Leuchtern, den imposanten Wandgemälden oder dem farbenprächtigen Mosaikfenstern keine große Beachtung. Denn das, was er am anderen Ende des Raumes erblickte, ließ ihn wieder mit seinem Lächeln kämpfen. Dabei war der Grund für sein Entsetzen nicht einmal der am Boden liegende Strampeldohr, der nur wenige Meter von Tantalus entfernt gegen seine Fesseln kämpfte und den Blutergüssen überall im Gesicht nach zu urteilen, sie nicht gerade freiwillig verraten hatte. Vielmehr verfolgte der Kiyama mit großen Augen die Zuckungen, die durch den Antagonisten dieses Märchens liefen. Immer wieder verkrümmten sich seine Arme zu abstrusen Stellungen, während sich unter der Haut des Mannes irgendetwas zu bewegen schien. Es war beinahe so, als würden sich Insekten ziellos durch das Fleisch graben. Doch am schlimmsten und furchterregendsten war die Veränderung, die das Gesicht durchmachte. Scheinbar bewegten sich die Kieferknochen des Mannes immer weiter nach vorne, schienen zu wachsen und dicker zu werden. Gleich an mehreren Stellen war die Haut aufgeplatzt und der Schmerz ließ Tantalus unaufhörlich aufstöhnen. Plötzlich warf er sich nach vorne und blieb von seinem Mantel verdeckt regungslos liegen. Fassungslos schaute Mura auf den Boden, als er merkte, dass Übelkeit in ihm aufstieg. Was für eine grauenhafte Art zu sterben. Seinen beiden Begleitern erging es nicht anders, die ebenso gebannt und sprachlos das Geschehene verfolgt hatten. Mochte er auch ein Kannibale gewesen sein, aber das war graue… In diesem Moment kam wieder Bewegung in die am Boden kauernde Gestalt. Wie von selbst erhob sich der Körper an mehreren Stellen. Wie bei einem Herzschlag wuchsen Beulen unter dem Mantel, die sich hoben und wieder senkten, dabei aber stetig größer wurden. Zu allem Überfluss war wieder das Stöhnen zu hören, aber es klang nun irgendwie anders und verzerrt. Schließlich folgte ein langgezogener Aufschrei, der aber mittendrin die Tonlage änderte und zum einem schrillen Kreischen wurde. Gleichzeitig platzte der Mantel an mehreren Stellen auf, nur waren dort, wo eigentlich Arme und Beine hätten sein sollen, jetzt muskulöse Gliedmaßen zu sehen, die in Krallen ausliefen. Die rosige Haut eines Menschen hing in Fetzen an dem mächtigen Federkleid herab, das den ganzen Körper des Wesens umgab. Doch immer weiter wuchs das Ungeheurer, bis auch die letzte Naht des Mantels seinen Dienst verweigerte und die Gestalt in all seiner erschreckenden Pracht offenbarte: ein Greif.
Während er dies alles verfolgt hatte, war Mura immer weiter zurückgewichen, bis ein Tisch ihm jeden weiteren Rückzug verwehrte. Nun aber hatte genau dieses Möbelstück sein Gutes. Die Beine des Kiyamas verweigerten nämlich ihren Dienst, sodass allein seine in die Tischkante gekrallten Hände ihn noch aufrecht hielten. In was für einen Alptraum war er nur geraten… Sonderlich mutig oder heldenhaft fühlte sich Ritter Mura von Kumostein nicht, während das Blech an seinen Beinen nur so zitterte und sein Herz irgendwo in die Hosengegend gerutscht war.
Doch das Monster ließ der Gruppe keine Zeit sich wieder mental zu fassen. Stattdessen stieß sich der riesige Raubvogel ab und sprintete auf die drei Abenteurer oder in seinen Augen auf das Abendessen zu. Mai und Seishin reagierten am schnellsten und sprangen über Tische und Bänke, um sich in Sicherheit zu bringen. Doch der durch seine Rüstung schwerfällige Mura konnte nicht Schritt halten und wurde unversehens von Krallen gepackt und durch die Luft gewirbelt. Die Welt um ihn herum verschwamm, als er sich mit rasender Geschwindigkeit immer wieder um die eigene Achse drehte. Und jede Orientierung verlor. Dann kam der Aufprall. Mit einem Schlag wurde ihm die Luft aus den Lungen gepresst, als er trotz seines metallenen Schutzpanzers unsanft durch eine Bank krachte. Man hätte meinen können, dass Stürze aller Art inzwischen zur Routine für den Jungen wurden, aber dem war nicht so. Er wusste, dass er aufstehen und sich verstecken musste, aber sein Körper verweigerte ihm den Dienst. Stattdessen spürte er das immer stärker werdende Zittern des Bodens, als sich der massige Körper des Adlers seinem Opfer näherte. Mura machte sich gar keine Hoffnungen, dass die Rüstung dem scharfen Schnabel Paroli bieten würde. So versuchte der Junge elegant wie eine Schildkröte auf dem Rücken unter den Tisch zu kriechen, aber er war wieder zu langsam. Denn eine Kralle erwischte noch gerade so eben eines seiner Beine und zog die Konservendose, in der er steckte, mit absoluter Gelassenheit wieder hervor. Der junge Kiyama hatte immer gedacht, dass das geistige Auge eines Menschen in den letzten Momenten vor der ewigen Schwärze noch einmal das ganze Leben würde Revue passieren lassen. Von wegen…der einzige Gedanke, der dem Jungen im Kopf geisterte, war der Wunsch nach seiner Mutter. Tränen liefen seine Wangen herab. Nein…nicht so…bitte…Vergessen war jede Tai-,Nin- oder Genjutsu-Technik, die er beherrschte. Er wollte einfach nur leben.
Doch gerade, als der Tantalus-Vogel zum finalen Streich ansetzte, traf das Monster eine Schale am Kopf. Ruckartig reckte sich der Kopf nach oben und schaute sich um, ehe er unter einem protestierenden Kreischen ein weiteres Mal getroffen wurde.
Auch Mura hob überrascht sein Kopf, sofern es den die auf seiner Brust liegende Kralle zuließ. Dort stand seine Rettung. Mitten im Raum hatte sich Mai positioniert und bewarf das Ungeheurer mit allen, was nicht niet- und nagelfest war. Holzschalen und Becher regneten nur so auf das Federvieh hernieder, bis es tatsächlich von dem Kiyama abließ und sich dem Störenfried zuwandte.
Lauf! Lauf weg! Doch die Sakaida reagierte gar nicht auf die Worte des Jungen, sondern griff nach immer mehr Gegenständen, die den Vogel aber nicht einmal ansatzweise eine Verletzung zufügen konnten. Tantalus beschleunigte immer mehr und dennoch macht Mai keine Anstalten, die Flucht zu ergreifen. Bitte nicht…Mura konnte nicht mehr hinsehen und wandte sich ab. Warum war er nicht stärker? Warum musste das alles. Ich konnte ihr gar nicht sagen…Ein Ohrenbetäubendes Scheppern und ein Markerschütterndes Gekreisch ließen ihn wieder aufschauen. Da, wo gerade noch Mai erbittert um sein Leben gekämpft und ihr eigenes dafür aufs Spiel gesetzt hatte, lag nun der Greif. Doch sonderlich glücklich schien Tantalus nicht zu sein, denn er war tot. Erschlagen von einem der mächtigen Kronleuchter, die die Decke des Saales beherrschten. Wie…Mura bemerkte eine Bewegung an der Wand. Da stand Seishin mit einem hämischen Grinsen im Gesicht. Mei, Mei, ich spiele aber auch zu gerne herum. Wer hätte denn gedacht, dass so etwas passiert, wenn ich ein Seil löse. Nun war auch Mai zu sehen, die sich gerade wieder aufrappelte und den aufgewirbelten Staub von ihrer Kleidung klopfte. Dem Ninja aus Kumogakure fiel gleich ein ganzer Sack Steine vom Herzen. Sie hatten es geschafft. Falsch, Seishin und Mai hatten es geschafft! Sie hatten den bösen Professor besiegt.
Schnell halfen die beiden dem hilflosen Mura auf die Beine und befreiten den vor lauter Freude jauchzenden Strampeldohr, der hüpfend und lachend sich dem reglosen Leib näherte. Fein, fein habt ihr das gemacht. Niemals werde ich euch vergessen, aber nun musst ihr weiter. Weiter? Warum weiter? Mura wollte noch immer seine große Liebe fin…Der Junge warf einen kritischen Seitenblick zu Mai. Könnte es sein… Doch alle weiteren Worte blieben ungedacht, denn der knuffige Alte hatte zu einem Freudentanz angesetzt, der ihn immer wieder um das Ungeheuer führte. Dabei sang er lauthals ein etwas seltsames Lied:
Ding Dong, der Greif ist tot, der Greif ist tot,
Ding Dong…
Der Kiyama musste schmunzeln, wie ausgelassen sich doch ein so alter Mann benehmen konnte. Aber schnell wurde aus Amüsiertheit Sorge, denn schneller und schneller wirbelte Strampeldohr herum. Seine Gestalt verschwamm dabei immer mehr und ein Luftzug wirbelte die Haare der Gruppe durcheinander. Bald war der gute Mann gar nicht mehr zu erkennen, dafür hatte sich ein ein Wirbelsturm inmitten des Saales gebildet, dessen Sog sich die Gruppe erst mühsam, dann gar nicht mehr entziehen konnte. So wurde einer nach dem anderen in den Strudel gezogen und flog so dem nächsten Raum des Examens entgegen.
Anmerkung: ich hoffe, der Post ist in eurem Sinne.