„…und dann sind plötzlich Steine vom Himmel geregnet! Einer von denen hätte fast das Pferd getötet! Pflatsch!“
„Nein!“
„Doch! Aber ich bin nicht weggerannt, im Gegenteil: Ein Schlag, und der Fels war weg. Weg!“
„Nein!“
„Doch! Als ich die Augen aufgemacht hab’, war da zwar eine komische Gestalt, die auch die Hand oben hatte, aber ich hab’ den Felsen ganz eindeutig gespürt, wie er an meiner Faust zertrümmert ist!“
„Nein!“
„Doch!“
Genau diese geistvolle Unterhaltung war gerade im Gange, als Nagi dazugekommen war. Was er außer der Geschichte verpasst hatte? Naja, nicht viel: Minoko war dem Geruch von gebratenem Fleisch hinterher geeilt, war dem Mann begegnet, und wie verschrobene, alte Kerle nun mal waren, bot der Fremde dem hübschen, jungen Mädchen pflichtbewusst eine Portion an. Kaum gesagt, hatte Minoko auch schon ein Karnickel halb verputzt.
Ganz in ihr Essen vertieft beachtete sie auch noch immer ihren Partner nicht, der nun mit knurrendem Magen ans Lagerfeuer trat und nach Fleisch fragte. Der alte Herr, die Augen noch auf das Mädchen gerichtet, drehte sich dem Jungen zu, beäugte ihn ehrlich überrascht, und lächelte ihn dann zufrieden an.
„Selbstverständlich“, verkündete er mit selbstbewusstem Bariton, „setz’ dich, Jungchen, und pack ein wenig Fleisch auf deine dürren Knochen.“
Mehr sagte der Alte, der bei genauerem Hinsehen gar nicht so alt wirkte, zunächst nicht. Er winkte Nagi nochmals nachdrücklich zum Feuer, dann stand er ohne Weiteres auf und kümmerte sich um seinen Bären. Auch er erhielt ein Kaninchen, bevor er sanft zur Ruhe gebettet wurde auf einer der großen Decken, die deutliche Biss- und Kratzspuren aufwies. Soviel zum Himmelbett.
Bei seiner Rückkehr ächzte der Mann etwas theatralisch, als er sich hinsetzte, fuhr danach jedoch mit weiterhin klarer, fester Stimme fort:
„Gleich zwei Besucher an einem Tag… so was hatte ich seit sicher zwei, drei Jahren nicht mehr. Und dann auch noch so lebendige dazu, was für eine Freude!“
Das Lächeln des Mannes blieb in seinem Gesicht, als er sich selbstvergessen gegen den Kopf schlug, den Hut abnahm und das Haar darunter – kastanienbraun und etwas schulterlang – zurückwarf. So entblößt rückte er etwas näher zu Nagi (nachdem die Umgebung um Minoko durch herumfliegendes Fett, Knorpel und Knochen temporär unbewohnbar war), klopfte Nagi auf die Schulter und wiederholte enthusisastisch:
„Na los, junger Mann, greif zu! Wenn dir der Sinn nicht nach Kaninchen steht, kann ich auch etwas Obst oder Gemüse von hinten holen.“
Ganz offenbar war das jedoch nicht nötig, machte sich der Junge plötzlich fast ebenso enthusiastisch wie seine Kollegin über eines der Kaninchen her und bediente sich ausgiebig an einem der Wasserkrüge, der ebenfalls am Feuer stand. So vergingen die ersten paar Minuten, in denen der alte Mann den Kindern einfach nur beim Essen zusah und still lächelte. Trotzdem Minoko seinen vermeintlichen Schlafplatz in ein fettiges Chaos verwandelte. Die relative Stille wurde so erst gebrochen, als Nagi sich zu Wort meldete:
„Haben sie nen Namen?“
Daraufhin lachte den Mann auf, rieb sich den Hinterkopf, und deutete im Sitzen eine knappe Verbeugung an.
„Oi oi, natürlich, wo bleiben denn nur meine Manieren? Die letzten Gäste sind einfach schon zu lange her, nehme ich an. Kanjiki heiße ich, und das dort drüben…“
„’Schneeschuh’?“, prustete Minoko, bemerkte aber, dass sie dafür ihr Mahl unterbrechen musste, und kehrte sofort wieder zu ihrem Fleisch zurück. Der Mann lächelte nur weiter.
„Jap, Schneeschuh. Kanjiki klingt aber… nun ja.“
„Was machen sie hier?“, fragte anschließend erneut Nagi. „Mitten im Nirgendwo. In… einer Höhle. … Mit… einem Eisbären … mit Hut?“
Die Worte des Jungen verbreiterten das Grinsen des Mannes. „Du meinst Hyozan dort drüben? Er ist so etwas wie… mein Untermieter. Hab’ ihn vor etwas… hmm, wie lange mag es her sein? Ein Monat? Zwei? Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls habe ich ihn draußen gefunden. Ist eine der Fallen draußen getappt, die die verrückten Leute von der Küste manchmal aufstellen. Konnte ihn knapp befreien, hat aber schwer gehumpelt. Ich hab’ ihn gesund gepflegt, und seitdem wohnt er bei mir. Lässt mich auch manchmal auf ihm reiten.“
Und tatsächlich: Besah man sich die ausgestreckten Gliedmaßen des Eisbären genauer, erkannte man an der linken Hinterpfote einen lockeren, dreckig-grauen Verband. Der Teil schien zumindest nicht gelogen.
„Oh, und was den Hut angeht: Der passt doch gut zu Brille und Hose, oder?“
Das schien Nagi zumindest ansatzweise zufriedenzustellen, auch wenn eine gefurchte Stirn aller Welt seine Verwirrung zeigte.
„Aber warum leben Sie hier in der Höhle?“
Bei dieser Frage verdunkelte sich das Gesicht des Mannes zum ersten Mal seit der Ankunft der Kinder, wenn auch nur minimal. Minoko entging die Regung völlig. Nagi…
„Warum wohnen Menschen in Höhlen? Weil sie kein Haus haben, vielleicht? Weil sie sich keins leisten können? Oder weil sie keins wollen? Weil sie nicht in einem engstirnigen Dorf unter engstirnigen Menschen leben wollen, die die Natur ihrem Willen unterwerfen wollen, anstatt im Einklang mit ihr zu leben?“
Das Lächeln kehrte nur mühsam ins Gesicht des Mannes zurück. „Um ehrlich zu sein war ich einfach nur zu geizig.“
„Wenn sie so geizig sind, woher dann die ganzen Kisten und Vorräte?“ Unter Nagis strengem Blick wurde das Lächeln des Mannes härter.
„Ich bin kein Freund von Verschwendung. Wenn ich etwas finde, nehme ich es mit. Und hier in den Bergen findet man viel.“
Das schien dem Jungen offenbar vorerst zu genügen, immerhin ging die nächste Frage in eine andere Richtung.
„Haben sie von den Yeti-Überfällen hier in der Gegend gehört?“
Das brachte den Mann zum Stutzen. „Ye-…ti?“ Langsam drehte er sich zu seinem Bären um, schaute ihn eine Weile lang an… und brach dann in schallendes Gelächter aus. Der klare, dunkle und warme Klang hallte von den Wänden wieder und zwang selbst Minoko, kurz eine Pause einzulegen und mitzukichern, wobei sie immer wieder „Yeti, Yeti“ gackerte. Nach einem ausgiebigen Lachanfall wischte sich der Mann eine Träne aus dem Augenwinkel und grinste Nagi an.
„Jetzt verstehe ich. Natürlich. Diese Vollidioten an der Küste haben Hyozan so gesehen und dachten… und dann haben sie auch noch gleich Ninja bestellt! Wie ausgesprochen amüsierend.“
Die goldrichtige Einschätzung brachte Nagi dazu, sein Stirnband hervorzuziehen. „Diese Waren hier sind also die der Händler? Die sie gefunden haben?“
Trotz der Anschuldigung lächelte der Mann weiter. „Wie gesagt, ich habe sie gefunden, und weiß deshalb nicht, wer sie verloren hat. Händler, Räuber auf der Durchreise… aber so langsam wird es mir klar. Du musst wissen, Hyozan ist… er ist ein Wildfang. Wie alle männlichen Eisbären. Die Dickerchen tun alles, um an Futter zu kommen. Und obwohl Hyozan bei mir wohnt, weiß ich nicht über alles Bescheid, was er dort draußen anstellt. Kommt er manchmal mit Beute im Maul nach Hause? Ja. Verfolge ich ihn manchmal und nehme mit, was er hinterlässt? Auch richtig.
Aber habe ich ihn je beim Angriff auf Menschen gesehen, oder gar selbst Reisende ausgeraubt und verletzt?“ Der Mann schüttelte belustigt den Kopf. „Nein, niemals.“
Darauf antwortete Nagi zunächst nicht, sondern zog stattdessen einen zusammengefalteten Zettel hervor, der offenbar schon einiges mitgemacht hatte. „Natürlich nicht. Das hier ist eine Liste der Waren, die gestohlen wurden. Oh, hier sind mehrere teure Teppiche und Decken vermerkt.“ Ein knapper Blick auf den Boden. „Lustiger Zufall, hm? Hätten sie etwas dagegen, wenn ich einen Blick in diese Kisten werfe?“
Das Lächeln des Mannes blieb, wo es war. „Du kannst dich gern in meinem Zuhause umsehen. Zumindest solange du dir bewusst bist, dass es mein Zuhause ist, und alles, was du siehst, mir gehört.“
Nagi schien nicht locker lassen zu wollen. „Sie haben gesagt, sie hätten all das hier gefunden. Die Händler der Gegend haben ihre Waren also… verloren. Sind das hier die gestohlen-… ich meine natürlich ‚verloren’ gegangenen Waren, gehören sie rechtmäßig nach wie vor den Händlern.“
Der junge alte Mann seufzte. „’Rechtmäßig’? Nach welchem Recht beanspruchen denn diese Leute ‚ihren’ Besitz? Nicht nach meinem, dem natürlichen Recht, soviel ist sicher.“
Nun war es an Nobunaga, zu seufzen. „Hören sie, ich habe nichts gegen sie. Wir beide haben aber den Auftrag erhalten, die Überfälle auf die Handelswege zu stoppen und wenn möglich so viele der gestohlenen Güter wie möglich zurück zu bringen.“
Sichtlich entspannt und mit einem selbstzufriedenen Lächeln schaute der Mann erst zu Minoko, dann wieder zu Nagi. „So ist das also, das ist euer Auftrag? Dann ist die Sache doch ganz einfach! Überfälle gab es keine, und ‚gestohlene Güter’ ebenso wenig. Ihr beiden seit hier herauf gekommen, habt nichts gefunden, was es zu stoppen oder zurückzubringen gäbe, und verweist die Leute an der Küste freundlich darauf, dass es so etwas wie Yetis nicht gibt.“
Diese Lösung schien nicht zur Zufriedenheit des kleinen Teamleiters zu sein. Ein einfaches „Nö.“ Schmetterte den Vorschlag ab.
„Ihnen ist klar, dass ihr Bär Händler angegriffen hat? Ob sie das gesehen haben oder nicht ist egal. Allein dafür würde man ihn jagen. Ich werde alles, was ich erfahren habe meinen Auftraggebern mitteilen. Die Angst vor dem Yeti ist damit hin. Die Händler werden sich bewaffnen und ihren Bären bei der nächsten Gelegenheit zur Strecke bringen. Wenn sie ihn nicht unter Kontrolle haben, wird die Sache also tödlich ausgehen.“
An einer längst vergessenen Seite des Lagerfeuers fiel bei diesen Worten ein abgenagter Knochen zu Boden. Abrupt schoss Minoko in die Höhe, beugte sich in Richtung Nagi vor, und zeigte mit geballten Fäusten auf den Boden.
„WAAAS?!“
„Den Händlern liegt eben nichts an dem Bären, Nohime. Deshalb wollte ich dem netten alten Herrn hier ja gerade vorschlagen, dass er und sein Bär am besten umziehen sollten. Damit ist jedem geholfen… und Mister Kuschelbrumm ist auch in Sicherheit.“
Noch immer entsetzt, aber ohne weiß hervortretende Fingerknöchel, wirbelte Minoko zu dem Einsiedler herum, der das erste Mal nicht lächelte. Ernst schaute er Nagi direkt in die Augen.
„Umziehen? Wegen diesen…! Hmpf. Gut. Nehmen wir an, ich würde umziehen. Theoretisch. Was ist mit meinem Besitz?“
Minokos Kopf witschte zum Lächeln ihres Teamleiters. „Ganz offensichtlich können wir nicht alles sofort mit in das Küstendorf nehmen. Da wir aber Bericht erstatten müssen, werden in ein paar Tagen Leute kommen um die Waren zu holen und den Händlern zurückzugeben. Bis es soweit ist, haben sie vermutlich genug Zeit, um die wichtigen Dinge mitzunehmen, oder?“
Zwei Blicke trafen den Eremiten, der eine Weile still ins Lagerfeuer starrte. Dann hob er den Kopf und zeigte ein Grinsen, das seine Augen nicht erreichte. „So gut, wie die dort unten sich hier auskennen, würde ich tatsächlich genug Zeit haben. Ein guter Kompromiss, mein Junge, ein guter Kompromiss… Leben und leben lassen, richtig? Meinetwegen. Komm her.“
Damit rückte der Mann noch ein wenig näher zu Nagi, sodass seine ausgestreckte Hand ihn fast erreichte. Nach kurzem Überlegen ließ sich Nagi unter dem nervösen Blick seiner Partnerin auf die Geste ein, und beide schüttelten sich die Hände. Das entlockte Minoko ein lautes Jauchzen.
„Schön, dass wir das friedlich klären konnten.“
Der Rest des Abends verlief unerwartet friedlich. Da vor der Höhle noch immer ein Schneesturm tobte, beschlossen Nagi und seine Partnerin kurzerhand, dem Eremiten noch eine Weile Gesellschaft zu leisten. Zeit, die dieser gerne nutzte, um mit dem Vorbereitungen zu seinem Umzug zu beginnen.
Nach einigen kleinen und großen Geschichten und Scherzen, zumeist auf Nagis Kosten, kehrte Minoko irgendwann zu dem massigen Eisbären Hyozan zurück, kuschelte sich das schwere, weiße Fell und schloss die Augen. Schlaf stellte sich jedoch nicht ein, da Nagis Worte noch immer in ihrem Kopf steckten und das Mädchen ungewohnt nachdenklich stimmten.
*Ob die Leute an der Küste ihn wirklich…? Nein. Niemand kann ein solches Tier wegen ein paar verstaubten Vasen verletzen wollen. Niemand. Trotzdem waren Nagi und Kanjiki-san so ernst, die ganze Zeit… Als ob tatsächlich… tatsächlich…*
„Chrrr…“
Als Minoko wieder aufwachte, schienen beide Männer in der Höhle schon bereit zum Aufbruch zu sein. Müde rieb sich die Oda ihre Augen, warf einen Blick auf Hyozan, der sich mühsam aufrappelte, und fuhr ihm ein letztes Mal liebevoll durchs Fell. Zu gern würde sie den Bären mitnehmen, doch selbst Minoko wusste, dass das Tier bei seinem „Vermieter“ besser aufgehoben war. Außerdem hatte sie ja das andere Fellbündel, das noch immer unter ihrem Hemd vor sich hinschnarchte und dank der Strapazen seiner Selbstrettungsversuche wohl so schnell auch nicht erwachen würde.
Irgendwann verabschiedeten sich die Kinder dann von dem merkwürdigen Eremiten und seinem Haustier, allerdings nicht ohne dass Minoko noch ein kleines Andenken geschenkt kam: Eine weiße Hasenpfotenkette. Es war ein krudes Ding, weißes Plüsch an einem abgehalfterten Lederband, natürlich selbstgemacht. Doch trotzdem, und obwohl sich Minoko fragte, wofür sie eine fünfte Hasenpfote brauchte, freute sie sich wie die Schneekönigin höchstpersönlich. Dabei half auch, dass Nagis Andenken - ein kleiner, geschnitzter Mann an einer ähnlichen Lederkette, der Dank harten Gesichtszücken und einer eingravierten Schmalzlocke dem Jungen zum Verwechseln ähnlich sah - viel weniger flauschig war.
*Wahrscheinlich ist es wie bei einem Kleeblatt: Vier bringen Glück, fünf ein Leben lang.*
Nach wildem Händeschütteln, ein paar Tränchen der jungen Kunoichi in Richtung Hyozan und zigmaligen Abschiedsgrüßen trennten sie sich endgültig, und Nagi und Minoko traten den Weg nach Hause an, oder besser dorthin, wo sie die merkwürdige Frau, ihren Esel und Hisake vermuteten. Die warteten schließlich noch irgendwo auf die Rückkehr ihres Leiters und ihrer Prinzessin.
Mit einem letzten Blick auf die zwei Punkte, einen schwarzen und einen weißen, die hinter ihnen gerade auf eine schwere Schneewehe kletterten, hüpfte Minoko ein paar Schritte voraus, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lächelte Nagi an.
„Hierher. Wenn dir in Sora irgendwann auch mal alle an den Kragen wollen, weil du sie nervst, ziehen wir eindeutig hierher!“