Yukio musste Oita schon ein bisschen Recht geben - er verstand auch nicht so ganz, warum man sich eine Leiche nicht kurz alleine ansehen konnte, wenn man doch schon bei der Untersuchung helfen sollte. Aber vielleicht hatte Nanaka ja auch Gründe dafür.
"Nanaka hat ja gesagt, sie haben solche Sachen normalerweise nicht. Sie wollen bestimmt einfach alles sehr richtig machen! Weil es so ungewohnt ist." Setzte er Oitas Vermutung eine eigene, wohlwollendere Annahme entgegen. Immerhin hatten sie eine gute Herberge bekommen! Yukio empfand das Zimmer nicht als schäbig - sicher, es fehlte ein bisschen Dekoration und eine nette Tapete, aber dafür war es sehr geräumig für nur drei Ninja! Er inspizierte skeptisch den Dielenboden, ehe er zu dem Ergebnis kam, dass das für seine Zwecke zwar grundsätzlich gut funktionieren würde, aber das nicht sehr rücksichtsvoll wäre, und nahm dann seinen Reiserucksack ab, in dem sich neben Wechselsachen und der Proviantdose für den Marsch aus dem Erdreich auch noch etwas anderes befand - und wurde dann kurz unterbrochen, als Oita dringend nach draußen wollte, um etwas zu Essen zu fangen. Das war natürlich auch wichtig, und Yukio mümmelte wenig später mit sichtlichem Interesse an einer saftigen Gebäcktasche voller Gemüse, wobei ihm einige Streifen Genausogut-wie-Fleisch oder Tomatenwürfel gelegentlich entwischten und mit ein paar hastigen Fingern wieder eingefangen werden mussten. Es sei denn, Yari war schneller! Die kleine Unterbrechung störte Yukio offensichtluich nicht - Essen war auch wichtig, wenn man so eine wichtige Ermittlung hatte! Erst als Hatsune das Thema ansprach, kam er selbst darauf zurück, dass er noch etwas vorgehabt hatte.
"Oi! Da müssen wir aber zurück in die Herberge! Das kann man auf der Straße nicht machen!" War dann aber auch alles, was Yukio an Erklärung über sein Vorhaben anbot, ehe er auch schon losflitzte.
Zurück in ihrem Raum huschte Yukio wieder zu seinem Rucksack, wühlte einen Moment, und zog dann eine lange, mitternachtsblaue Stoffbahn daraus hervor, die er in der selben Bewegung entrollte. Mit den aufgedruckten süßen Sternchen sah es schon sehr verdächtig nach einer Schmusedecke aus - war es auch, denn Yukio legte sie gleich darauf auf das Bett, das er für sich ausgesucht hatte, ehe er nochmal im Rucksack abtauchte und eine große Rolle Papier hervorzauberte, die er dann auf einem freigebliebenen Bett ausbreitete.
"Soo. Das ist schon mal eins ..." dann huschte er zu den Nachtschränken und sammelte die dort stehenden, kleinen Kerzen ein, die er sehr vorsichtig auf das Papier stellte. Dann nahm er sich einen schwarzen Kreidestift aus seinem Rucksack und begann damit hurtig erst einen Kreis und dann einen zweiten, größeren Kreis auf das Papier zu malen. So würde man die Dielen nicht putzen müssen, so viel Rücksicht nahm Yukio gerne auf die Herberge! Die Kerzen wanderten als nächstes in den Raum zwischen beiden Kreisen ... hm nein, das war keine gute Idee.
"Ich glaube, Gläser oder Untertassen wären gut ..." murmelte Yukio, und fand in einem der Schränke tatsächlich auch welche, sodass er hoffentlich nicht sein Papier und das Bett in Brand steckte, als er gleich darauf mit einem Streichholz die Kerzen anzündete.
"Soo - oh warte, da fehlt noch eine Sache." Yukio kicherte über seine Nachlässigkeit - und griff dann in seine Hemdtasche, um die Brille des Verstorbenen hervorzuzaubern, die er eben beim Anschauen der Leiche schnell eingesteckt hatte.
"Hier!" Sie wanderte natürlich in die Mitte des Doppelzirkels, und er strahlte in die kleine Runde.
"Der Mann ist nicht in den Kanälen gestorben, darum habe ich ihn dort nicht gefunden. Aber seine Brille ist genug um ihn herbeizurufen, und dann können wir ihm einfach alle Fragen stellen!" Yukio blinzelte - und als er die Augen wieder öffnete, waren sie pechschwarze Kugeln, an deren Rändern ein dunkles, rötliches Glühen heraufschien - wie zwei Kohlen, die im Dunkeln vor sich hin glommen.
"Ihr müsst nix bestimmtes machen - oh, aber vielleicht die Gardinen runter, okay? Und seid nett zu ihm und guckt nicht komisch, ja? Die Leute die nicht atmen sind da manchmal ein bisschen empfindlich." Das Lächeln, dass Yukio für seine Teamkameraden übrig hatte, ehe er sich dem Zirkel auf dem Papier zuwandte, wirkte neben den unmenschlichen Augen ein bisschen deplatziert, war aber sehr ermutigend. Yukio stellte sich dicht vor die Kerzen, spreizte die Arme leicht, und begann zu sprechen.
"Rastlose Seele! Wandernder, der diese Brille sein eigen nannte! Ich rufe dich! Beim Licht der Kerzen und bei der Kraft des Kreises, ich rufe dich! Erscheine!" Yukio klang mit einem Mal um ein vielfaches lauter, obwohl er nicht wirklich laut war - es war nur das Gewicht seiner Worte, das sich verändert hatte, nicht deren Lautstärke. Das flackernde Kerzenlicht hob den düsteren Schein von Yukios Doujutsu noch weiter hervor.
"Beim Rauschen des Wassers um deinen Körper, bei der Stille zwischen den Glockenschlägen, ich rufe dich! Erscheine!"
Etwas schien sich in der Umgebung verändern - es war, als würde der Raum mit einem Mal an Tiefe und Weite gewinnen, als stünden sie nicht in einem abgedunkelten Zimmer einer Jungendherberge, sondern einer großen, weitgehend leeren Halle. War das ein kalter Windhauch, oder nur Einbildung? Die Kerzen hatten geflackert, aber nichts sonst im Raum hatte sich bewegt ...
"Beim Schein deiner Brillengläser und beim Schimmer des Goldes! Die Augen der Unterwelt sehen dich! Erscheine, um Zeugnis abzulegen!" Die letzten Worte fielen von Yukios Lippen wie schwere Bleitafeln und hinterließen eine dröhnende Stille. Der unsichtbare Windhauch war nun viel stärker zu spüren, die Kerzenflammen wurden nach innen gezogen - und dann, mit einem mal, war der Zirkel nicht mehr leer. Die durchscheinende, abgeblasste Gestalt eines alten Mannes in teurer Ausgehkleidung schwebte eine Handbreit über der Brille und starrte in den Raum - scheinbar mehr als ein wenig überrascht über diese ungewöhnlichen Umstände. Sie war etwas unscharf, als läge sie unter dem Wasser eines ruhigen Teichs. Der Mann kniff die Augen zusammen und schien sie allmählich erst scharf zu sehen.
"Wer ... wer ruft mich? Warum stört ihr meine Ruhe?" Die Stimme war alt und kratzig, aber mehr noch schien sie ein bisschen zu brauchen, um bis an ihre Ohren zu dringen - die Bewegungen des Mundes passten nicht ganz zu den Worten, die sie hörten.
"Ich bin Yuudari Yukio. Ich habe dich gerufen, um deinen Tod ins Licht zu bringen, ehrbarer Wanderer. Ich bitte dich darum, uns zu berichten, was du davon erinnern kannst, damit wir dir und deinen Nachkommen Gerechtigkeit verschaffen können."
Der Tote drehte sich langsam und scheinbar unwillkürlich die eigene Achse, wie ein Luftballon im Wind, während Yukio sprach. Einen Moment danach wurde sein Hinterkopf sichtbar. Das Gespenst blutete nicht, aber da war ein gut sichtbares Loch im Schädel ...
@Furasaki Oita @Nekoyami Hatsune