Junichiro rechnete jetzt wahrscheinlich mit einem stotternden Mädchen, welches verzweifelt versuchte, die Lüge aufrecht zu erhalten, oder jemandem, der die Illusion fallenließ und dann so schnell wie möglich das Weite suchte. Aber am meisten rechnete er mit einer Fortführung der Scharade. Seine Worte waren beleidigend und sein Verhalten ließ auf massiven Verfolgungswahn und Arroganz schließen. Sie hatte zuviel Kunstblut verwendet? Schwerlich, Junko war immer sehr gründlich und achtete darauf, es nicht zu übertreiben. Der Mensch vor ihr hatte ebenso wenig medizinische Kenntnisse wie sie selbst, das wusste sie jetzt mit Gewissheit. Auch, dass dieser Mensch arrogant und überheblich war, ebenso wie die Tatsache, dass er sie nicht wirklich ernstnahm, ebenso wenig wie die Sora-Nin da unten. Das sollte er aber. Dringend. Zumindest von Daisuke wusste Junko mit Gewissheit, dass sie sich im Nahkampf nicht mit ihm anlegen wollte, aber das war eine andere Sache. Momentan ging es allein um Shiro, welcher nun in einen höchst seltenen Genuss kam: Junko lächelte ihn an. Viel lag in diesem Lächeln: Mitleid, ein wenig Schmerz, als wäre sie tatsächlich verletzt, Traurigkeit, Reue, aber auch eine Prise Hinterhältigkeit, Schadenfreude und Grausamkeit. Nur Amüsement und Freundlichkeit fehlte, was man in einem Lächeln für gewöhnlich erwartete, insofern erschien Junichiro dieses Lächeln vielleicht merkwürdig, während die kleine Chuunin – immerhin ein, zwei Köpfe kleiner als der Genin – folgende Worte an ihn richtete.
„Das hier tut mir mehr weh als dir.“
Wahrscheinlich bezog sie sich auf ihren Stolz, weil sie sich aufgrund der Cleverness des Genin nunmehr zurückziehen musste. Sodann aktivierte die Kunoichi mit einer raschen Bewegung ihre vorbereitete Kunst und verschwand somit sehr effektvoll aus dem Blickfeld Shiros, als durch einen Windstoß - wo auch immer dieser herkam - die am Boden liegenden Blätter aufgewirbelt wurden und den Blick auf das Mädchen versperrten - spielte da das Wetter zugunsten Junkos, um ein paar Blätter zur Flucht aufzuwirbeln? War das ein Grund, aufzuatmen? Sie war nur ein kleines Mädchen gewesen, welches zudem auch noch nicht einmal den Mumm gehabt hatte, sich anderen Genin oder gar den drei Sora-Nin da unten im Nahkampf zu stellen. Es war angesichts dieser Strategie davon auszugehen, dass sie körperliche Schwächen zu kompensieren hatte – aber woher hatte sie das Kunstblut? Wie lange hatte sie das vorbereitet? Und was hatte sie eigentlich erreichen wollen?
Dem verehrten Leser sei an dieser Stelle verraten, dass Junko ursprünglich vorgehabt hatte, Junichiro nach einem kleinen Gespräch die Plakette anzubieten, welche er benötigte und welche sich, wie der Zufall es nun einmal wollte, tatsächlich in ihrem Besitz befand, und ihn somit dazu bringen, sich mit Sakamoto zusammenzutun und die drei Sora-Nin da unten zu verprügeln. Die Chuunin hatte sogar vorgehabt, dem Genin tatsächlich die versprochene Plakette zu überlassen, wenn er artig mitspielte, doch da er sie zum einen unhöflich behandelte und auch noch ihren Plan platzen ließ, obwohl sie den Fehler nicht genau erkennen konnte, disponierte sie kurzfristig um. Es tat noch nicht einmal dem frostigen Gemüt und Ego der Kunoichi gut, so eiskalt abserviert zu werden, und somit ging sie zu Plan F über (nur um einmal anzudeuten, wie viele Pläne sie im Fall eines Gesprächs zurechtgelegt hatte – und nicht einer hatte mit einer Falle zu tun, für Fallen war nämlich wirklich eine Zeit gewesen). Auch die Tatsache, dass sie diesen Shiro-Nin nicht kannte, half gerade ungemein weiter. Bei Ryo, Itoe oder sogar Kayros hätte Junko Schwierigkeiten gehabt, diesen Plan durchzuführen. Wie der Plan hieß? Ist doch klar. Plan F für Fffff … verdammt aua.
Ehe sich Shiro versah, spürte er nämlich einen wuchtigen, mittels Kunaigriff verstärkten Schlag zwischen seinen Beinen. Dass dies nur dazu führen konnte, dass er sich schmerzhaft zusammenkrümmte, steht vollkommen außer Diskussion, und er brauchte auch nicht hinunterschauen, um zu wissen, dass die kleine Mameha ihre Kunst nicht etwa zum Rückzug, sondern zum Angriff genutzt hatte, obwohl sie eigentlich nicht dafür gedacht war. Wie oft muss man es eigentlich noch wiederholen? Wenn Junko die Wahl hatte, Kampf, Flucht oder Erstarren zu wählen, fiel ihre Wahl stets auf Kampf. Und da die Obrigkeit sie ohnehin als Jägern in diesem Examen losgeschickt hatte, tat sie halt ihre Pflicht, auch wenn es ihr für gewöhnlich nicht sonderlich viel Spaß machte. In diesem Moment verspürte sie aber eine Art sadistische Freude, dem vorlauten Genin hier seine Unhöflichkeit auf sehr schmerzvolle Weise heimzahlen konnte. Man sollte es kaum glauben, aber das Fräulein Chuunin hatte das erste Mal in diesem Examen tatsächlich auf eine sehr kühle und grausame Art und Weise Spaß. Auch der Kollege, der mit ihr mittels Knopf im Ohr, auch bekannt als Funkverbindung und durch ihr offenes Haar mit hoher Wahrscheinlichkeit noch nicht entdeckt, kommunizierte, kommentierte die Aktion mit einem schmerzdurchtränkten „Aaaaaaaauuuuuuuuuu … das tat doch jetzt echt nicht Not!“ Na, wenigstens einer, der mit Shiro litt, denn Junko tat es nicht. Bevor der arme Junichiro zu Boden sank, nahm sich die Chuunin sogar die Zeit für einen arrogant klingenden, leicht spöttelnden Kommentar.
„Enttäuschend …“ Und damit durfte sich Shiro in seinem Schmerz suhlen und zu Boden sinken.
Junko wusste, dass sie nicht viel Zeit hatte, als sie den Genin rasch durchsuchte, ihn um seine Plakette erleichterte, diese jedoch nicht einsteckte und sich eiligst wieder von dem Shiro-Nin entfernte, diesen genau im Auge behaltend, als sie abermals die Vorbereitungen für ein Verschwindibus-Jutsu traf. Wann Shiro wieder zu vollen Kräften kam, wusste Junko nicht, doch als die Schmerzen für sie offensichtlich nachließen, befand sie sich in einer knienden Position, hatte die Plakette noch nicht weggesteckt und wirkte wie eine Katze auf dem Sprung. Sie würde weglaufen, würde Junichiro Anstalten machen, sie anzugreifen … wenn sein Verstand allerdings vorher so gut funktioniert hatte, wusste er, dass das Mädchen sich schon längst verkrümelt hätte, wenn sie es auf seine Plakette abgesehen hatte. Sie wollte offenbar verhandeln, was darauf hindeutete, dass sie seine Plakette nicht brauchte – entweder hatte sie ihre schon gesammelt oder nahm von vornherein nicht an dem Examen teil, um zu bestehen. Auch die Tatsache, dass sie ihn nicht gefesselt hatte, deutete darauf hin, dass sie ihn noch für irgend etwas brauchte. Seine Plakette schien also eher eine Verhandlungsbasis zu sein, der vorangegangene Schlag und das Zu-Boden-Schicken des Shiro-Genin hatte dazu gedient, aufzuzeigen, wer die Oberhand in den Verhandlungen hatte … oder wollte Shiro gar nicht mehr nachdenken und war einfach aus Rachegelüsten heraus das Mädchen angreifen? Sie hatte sich wieder auf eine sichere Distanz begeben und war mit ihren Vorbereitungen noch nicht fertig, dennoch würde sie wohl effektiv flüchten können – wenn die Verletzungen tatsächlich nicht echt waren, hieß das. Allerdings hatte Shiro durch den Schmerzensschleier durchaus wahrnehmen können, dass sich die Kunoichi tatsächlich etwas schleppend bewegte, in ihrem Schlag weniger Kraft gesteckt hatte als angenommen und dass sie tatsächlich etwas blass um die Nasenspitze war. Hatte er sich am Ende geirrt?