Himmel, was kannten diese Kinder denn bitte für Geschichten? Natürlich sollte man entsprechend abgehärtet sein, wenn man den Berufsweg eines Ninjas einschlägt, aber solche Abhandlungen waren eigentlich nichts, dessen sie sich bereits gewahr sein müssten. Man würde sie vermutlich ohnehin zuerst auf einfachere Missionen schicken und bei denen war an Mord und Totschlag nicht einmal zu denken. Viel schlimmer als die Geschichten selbst, fand Fushigi, dass Rai und Yuri von solchen Dingen zu berichten wussten. Wer zur Hölle erzählte ihnen sowas? Und was trieben ihre Eltern denn bitte? Aber wenigstens schien der Rest der Klasse von den Inhalten geschockt zu sein, sodass die versagte Erziehung wohl nur die beiden Erzählenden betraf und sonst niemanden weiter. Da wollte die Weihaarige mal nicht so sein und beendete ihre Gedankengänge mit einem tiefen Seufzen, ehe sie die Taschenlampe entgegennahm. Nun war an ihr, zu glänzen.
Wie man es nun einmal so machte, hielt sie sich die Lampe unter das Kinn, sodass ihr Gesicht von unten beleuchtet wurde und so für einen gruseligeren Touch gesorgt wurde. „Haltet euch besser aneinander fest, achtet darauf, dass euer Essen bei euch bleibt – diese Geschichte wird euch nämlich bis aufs Mark erschüttern.“, begann sie und setzte dann für ihre Erzählung an, indem sie die Taschenlampe immer wieder in schnellem Tempo ein- und ausschaltete, ehe sie wirklich loslegte:
Es war dunkel auf den Straßen, der kalte Regen des Himmels tauchte den schlammigen Boden Shirogakures in ein kühles Nass. Es donnerte, Blitze durchzuckten die Umgebung und sorgten für panische Blicke bei all jenen, die sie mitbekamen. Draußen herrschte ein Sturm, wie es ihn wohl kein zweites Mal mehr gäbe.
Inmitten diesem fand sich eine junge Frau wieder. Sie schien gehetzt, atmete schwer. In ihren Händen trug sie eine Tasche – schätzungsweise befanden sich darin wichtige Dokumente. Die Frau rannte, so schnell sie nur konnte. Sie brauchte Schutz – vor dem Wetter. Doch es war nicht nur das Wetter, das hinter ihr her war, das wusste sie. Jemand verfolgte sie, schon seit sie in diese eine Straße eingebogen war. Wer es war, konnte sie nicht ausmachen, aber es war ihr auch egal. Sie wollte nur so schnell wie möglich weg, in Sicherheit, ins Trockene und sich wärmen.
So rannte und rannte sie, bis sie bei einem Gebäudekomplex ankam. Eines der Häuser stand offen, sie ging hinein. Leisen Schrittes lief sie voran, die Flure und Räume waren dunkel. Daran, die Lichter einzuschalten, dachte sie nicht. Damit würde sie auf sich aufmerksam machen. Sie würden aufmerksam auf sie werden. Das wollte sie nicht. Niemand wollte das.
Also suchte sie sich einen Ort im Gebäude, der sicher zu sein schien, der nicht so einfach zu betreten wäre und setzte sich. Sie packte ihre Tasche aus, sämtlicher Inhalt fiel auf den Boden – sie handelte zu hektisch. Mit dem unfreiwilligen Entleeren ihres Beutels hatte sie Zeit verloren. Kostbare Zeit, die sie nicht hatte. Sie wusste, dass sie kommen würden. Kommen, um ihn zu holen – den Inhalt.
Erst jetzt bemerkte sie das Blut, das an ihrer Schläfe entlang lief, sich seinen Weg entlang ihrer Wange bahnte. Wann war das passiert? Sie wischte es ab, hörte, wie ihr Herz pochte – so stark, dass es ihr aus der Brust zu springen vermochte. Sie musste sich beruhigen. Anders würde sie das hier nicht überstehen.
Schweiß tropfte vom Kinn, als sie sich die Zettel vom Boden zur Brust nahm. Sie musste sie lesen. Jetzt. Das war ihre eiizige Chance, hier wieder herauszukommen. Lebend herauszukommen. Doch so sehr sie es auch versuchte, sie konnte nicht lesen, was auf ihnen stand. Sie wusste nicht einmal, ob es sich um Buchstaben handelte oder um eine wirre Zeichenanordnung. Nun war sie aber nicht auf den Kopf gefallen und sobald sie auch nur den kleinsten Zusammenhang erfassen konnte, markierte sie ihn mit einem Stift.
Plötzlich ging die Taschenlampe aus. Der gesamte Klassenraum war dunkel und sämtliche Schüler fragten sich, was nun los sei. Ein böses Omen?
BAAAM!
Ein lauter Knall erfolgte. Sie erschraken, sprangen auf, drängten sich aneinander.
Sie hörte einen Knall, ein Blitz schlug neben dem Gebäude ein, in dem sie saß. Sie kamen näher. Näher als ihr lieb war. Sie hörte ihre Schritte. Schritte von draußen. Sie musste die Zeichen entziffern, bevor sie bei ihr wären, musste dafür sorgen, dass die Nachwelt von ihnen erfährt.
Aber hier erkannte sie, dass sie es nicht schaffen würde. Tränen liefen über das Gesicht der schönen Frau. Tränen der Verzweiflung, der Trauer, dass sie es nicht weiter schaffen würde. Aber diesen einen Zettel… Diesen einen Zettel musste sie entziffern, egal, was es kostete, egal, wie sehr es sie anstrengte, was er ihr abverlangte. Sie drehte und wendete das Papier, machte hier und da ein paar Anmerkungen – ein Muster zeichnete sich ab. Sie war so froh. Doch dieser Glückszustand hielt nicht lange an. Just, als sie sich dem Inhalt des geschrieben gewahr wurde, verwandelte sich ihr Gesichtsausdruck in eine steinerne Miene, voller Schock, voller Entsetzen. Mit weit aufgerissenen Augen saß sie da und starrte ungläubig das Stück Papier in ihren Händen an. „Das… Nein… Alles umsonst….“, stammelte sie. Da standen Dinge, von denen sie nie zu träumen wagte, von denen sie noch nie etwas hörte. Dinge, die ihr Aus bedeuteten. Dinge, die ihr sagten, dass ihre Arbeit bis an diesen Punkt vergebens war.
Missmutig griff sie nach dem nächsten Zettel. Auch ihn wollte sie entziffern, doch bevor sie das tun konnte, unterbrach das laute Knarzen einer Tür ihre Gedankenwelt, zerstörte ihre Konzentration. Perplex schaute sie auf und… Sie sah sie. Sie hatten sich vor ihr versammelt, mit all ihren Werkzeugen, mit Scheren, mit Messern, Kunai und Shuriken – und stürzten sich auf die wehrlose Frau. Die letzte Stunde der Dame hätte geschlagen, als erneut ein Blitz einschlug und einen Baum zum Einsturz brachte, ihn in Flammen hat aufgehen lassen und ihren verzweifelten Schrei nach Hilfe vollkommen übertünchte.
„Wisst ihr, wo das alles stattgefunden hat?“ Fushigis Schüler schüttelten mit dem Kopf. Die Lampe war zwar inzwischen wieder an, geschockt waren sie dennoch, selbst wenn viele Fragen offen blieben. „Hier!“ Einige zuckten erschrocken, andere schauten sich panisch um, so als ob sie etwas schreckliches erwarteten. „Man sagt sich, dass man selbst heute noch diese Frau auf den Fluren umherwandern sieht.“ Und damit war ihre Geschichte beendet und die Kinder um sie herum beunruhigt. Ein Mädchen hob die Hand, meldete sich. „A-a-aber sie tut doch niemandem was, o-oder? H-h-haben Sie sie schon einmal gesehen, Fushigi-Sensei?“ Die Lehrerin schüttelte den Kopf. „Gesehen habe ich sie schon einmal, aber sie hat niemandem etwas getan. Vermutlich sucht sie einfach nur ihren Frieden.“ Ein anderer Schüler meldete sich zu Wort. „Und was hatte es mit diesen Zetteln auf sich? Was stand auf ihnen?“ Nachdenklich schaute Fushigi an die Decke. „Ich weiß es bis heute nicht, muss ich sagen. Die Schrift war so schlecht lesbar, dass ich dem Schüler eine Sechs geben musste.“ Moment mal! Sie sprach die ganze Zeit über über sich!? Prompt sahen sie alle an und ihre Blicke sagten alle das gleiche aus: Ist das Ihr kack Ernst, Fushigi-Sensei!? Ertappt.
Dieser Post entstand in Gedenken an Bramasaru Brouta.