Wohlige Schwärze, wohin man auch so. Oben, unten, rechts und links, überall herrschte absolute Dunkelheit. Hier trieb Inoue wie auf einem endlosen Meer einfach so dahin, in Stille und Wärme gefangen. Wobei "gefangen" vielleicht nicht das richtige Wort ist, das Mädchen fühlte sich nämlich ganz und gar nicht eingesperrt. Es wollte hier sein. Hier, im toten Nichts, das allen Sinnen Entspannungn schenkte.
*Ja... von mir aus könnte ich ewig hier bleiben. Kein hohler Karottenkopf, keine verrückte Kapuze, und vor allem kein durchgeknallter Mörder Schrägstrich Arzt.*
Kurz flackerte das graue Gesicht des Doktors mit der Brille vor Inoues Augen auf, doch binnen eines Sekundenbruchteils zerfloss die schräge Grimasse bereits wieder, und wenige Momente später hatte sich der graue Gedanke schon wieder verzogen.
*Das ist schon viel, viel besser... Endlich Ruhe und Frieden...*
Ruhe und Frieden... Worte, die der Yuudari selbige direkt nahmen, indem sie erneut eine schummrige Wolke aus Erinnerungen aufziehen ließen. Diesmal blickte Inoue jedoch nicht in das Gesicht eines einzigen Weißkittels, sondern in das unzähliger Menschen, die wiederum das Mädchen vor sich anschauten. Nein, sie schauten nicht nur, sie starrten, durchbohrten es mit ihren Blicken. Inoue, die die Gesichter sofort wiedererkannte, blinzelte einige Male ungläubig, um das Bild vor sich zu vertreiben, doch die Schemen nahmen immer mehr Gestalt an. Noch schwebten sie einige Meter vor ihr, unbewegt, und starrten die Yuudari einfach nur an.
*Nein... nicht ihr... die Dunkelheit... Ruhe und Frieden..!*
Ihre Gedanken hallten als geisterhafte Stimme in ihrem Kopf wieder, die einerseits wie ihre eigene, andererseits wie unzählige andere gleichzeitig klangen. Mit jedem Echo verblasste ihre eigene Stimme immer mehr während die fremden an Stärke gewannen und zu einem dämonenhaften Kanon anwuchsen. Immer lauter dröhnten die Worte "Ruhe und Frieden" in ihrem Kopf, ohrenbetäubend und verstörend wie ein Glockenschlag, der einem durch Mark und Bein ging und den eigenen Körper erzittern ließ. Inoue blinzelte weiter, schloss die Augen und öffnete sie wieder, doch die Geister vor ihr und die Stimmen in ihrem Kopf konnte sie nicht vertreiben. Stetig näherten sich die Schatten früherer Lebenden der Yuudari, streckten die nebligen Hände nach ihr aus und riefen nach ihr.
"Ruhe..!"
"Yuudari... Yuudari..."
"Frieden!"
Inoue strameplte mit Armen und Beinen. Irgendwie musste sie sich doch durch das schwarze Meer bewegen, ihm entfliehen können!
*Nein... geht weg, nein, verschwindet! Haut ab, verdammt nochmal!*
Während sie selbst sich keinen Zentimeter von der Stelle rührte, obwohl sie es mit aller Kraft versuchte, schlichen die Geister immer näher. Fünf Meter, dann nur noch vier, drei, zwei, noch ein Meter. Farblose, kalte Finger griffen sehnend in Richtung ihres verkrampften Gesichtes, langten nach ihren Augen, wollten sie ihr entreißen.
*Verdammt, nein, ich... alles nur wegen diesen... diesen verfluchten Augen... Nein... nein...*
"NEIN!"
Kalter Wind schlug ihr ins Gesicht, als Inoue plötzlich in einen orange-roten Himmel blickte, in dem gold leuchtende Wolken gemächlich dahintrieben. Die geisterhaften Stimmen waren verstummt, die toten Leiber verschwunden, allesamt scheinbar verschluckt vom Himmel über ihr.
Schlagartig setzte sich Inoue auf. Ihr Oberkörper, der bisher auf irgendetwas gelegen zu haben schien, klappte blitzschnell nach oben, wobei ihre Augen über den Himmel hinwegstrichen und schließlich eine dunkle Stadt unter sich fixierten.
Iwagakure.
Plötzlich begriff die Yuudari. Wie so oft während ihrer Ausbildung saß sie oben auf der Kante des Dachs von einem der Gebäude des Yuudari-Anwesens im Dorf hinter den Felsen. Dort unten lag ihre Heimat, erleuchtend von einem strahlenden Sonnenuntergang, der sich direkt vor ihr vollzog. Dort, weit weg am Horizont, versank ein glühender Feuerball ganz langsam hinter den Bergen des Erdreiches.
Und sie, Yuudari Inoue, schaute zu. *Wie ist das möglich?*
"Und, fertig mit deinem Nickerchen, Schlafmütze?"
Erschrocken fuhr Inoue herum und hätte dabei fast den Halt verloren. Nur die Tatsache, dass sie bereits unzählige Male hier oben gesessen hatte und sich das Gefühl von Leere unter ihren Füßen in sie gebrannt hatte verhinderte, dass sie vor lauter Panik von der Kante rutschte. Stattdessen rückte Inoue mit flatterndem Herzen etwas von der Kante weg, bevor sie noch einmal neben sich blickte um sich zu vergewissern, dass die person, die sie eben noch gesehen hatte, nicht auch nichts weiter als eine Illusion war.
Doch nein, dort saß sie noch. Genauso wie ihre Schülerin ließ sie die Beine gedankenlos in der Luft baumeln, während sie das Mädchen neben sich mit einem Lächeln ansah. Ganz so, als wäre es einfach nur einer von unzähligen Abenden, an denen Yuudari Yuzuki und Yuudari Inoue nach einem harten Training entspannten und den Sonnenuntergang genossen.
Doch dieser Abend war alles andere als normal. Erst wurde sie von einem verrückten Professor zum Forschungsobjekt degradiert, dann wollten ihr underte Geister die Augen ausreißen, und jetzt saß sie einfach so, als wäre nichts gewesen, mit ihrer Lehrerin auf einem Dach in Iwagakure?
In diesem Moment konnte Inoue nichts anderes machen als ihre Sensei verständnislos anzusehen und zu fragen: "Was zur Hölle ist hier eigentlich los?"
Die Frage war offenbar mehr als komisch, denn Yuzuki kicherte erst, bevor sie ihrer Schülerin dann freundschaftlich die Hand auf die Schulter legte und sagte: "Du bist immer noch nicht ganz da, was? Naja, kein Wunder, schließlich hast du auch einen schweren Tag hinter dir."
"Schweren Tag..?" Erinnerungen an Weißkittel, Skalpelle und Monsterratten ließen Inoue langsam nicken. "Stimmt, ja..."
Ihr Blick wanderte vom gesicht ihrer Lehrerin hin zur Stadt, die still und wie tot unter ihr lag. Die Schatten der Gebäude wurden mit jeder Sekunde länger, in der die Sonne den Kampf gegen ihre eigene Natur verlor hinter die Berge sank. Ihr Mund verzog sich zu einem ausdruckslosen Strich, dann wanderte langsam eine fremde Hand in ihr Blickfeld, die ein helles, rechteckiges Etwas hielt. Die Form und die Farbe waren der Yuudari nur allzu gut bekannt, doch jetzt, nach einem verrückten Auftrag auf einem Dach in Iwagakure, hatte sie einfach keine Lust auf ein Eis. Inoue schüttelte den Kopf, murmelte ein leises "Nein, danke...", doch die Hand wollte nicht verschwinden. Stattdessen sagte Yuzuki neben ihr: "Nun komm schon, nimm. Oder willst du dir von diesem Arzt-Typen dein Feierabend-Eis verderben lassen?"
Mit großen Augen blickte Inoue ihre Lehrerin an. "Woher..?"
"Die Geister haben dir ziemlich zu schaffen gemacht, wie?"
Inoue stockte. Erst der Arzt, dann die Gespenster... wie konnte ihre Lehrerin davon wissen?
"Weißt du, hättest du öfter auf mich gehört wäre das alles nicht passiert."
Ihre Überraschung wurde von Emoörung abgelöst, als Inoue zu einer schnippischen Antwort ansetzen wollte, doch stattdessen fiel ihr Yuzuki noch einmal ins Wort - mit einem breiten Grinsen im Gesicht. "Du lässt dich noch immer viel zu leicht aufziehen, weißt du das?" Inoue schnaubte. "Und du bist noch immer nicht so witzig wie du denkst."
Yuzuki kicherte. Einige Augenblicke sagte keine der beiden Frauen ein Wort, dann begann die geduldige Lehrerin erneut: "Jeder von uns hat Probleme damit. Du hättest mich mal bei meinem ersten Krankenhausbesuch sehen müssen. Obwohl eine mir sehr wichtige Person operiert worden war schaffte ich es nicht, sie zu besuchen. Dieses widerliche Krankenhaus... ich konnte keinen Schritt hineinsetzen. Du hast es selbst mitbekommen: Überall schwirren Geister herum, die ihren Tod einfach nicht akzeptieren können - oder wollen. Sie begreifen nicht, dass sie den kampf gegen ihre Krankheit oder die Wunde nicht gewonnen haben, und klammern sich krampfhaft an unsere Welt hier. Manche entwickeln dabei einen ungeheuren Hass auf ihren Arzt, geben ihm die Schuld an ihrem Tod. Deshalb können wir Ärzte auf der Strasse auch ziemlich gut erkennen: Halte einfach nach demjenigen Ausschau, der am meisten Seelen an den Hacken kleben hat."
Yuzuki kicherte erneut. Inoue dagegen blickte weiter starr auf die in Dunkelheit versinkende Stadt.
"Du musst immer daran denken, dass du dich, obwohl du eine Yuudari bist, nicht um alle Geister dieser Welt kümmern kannst. Es gibt unzählige, die mit ihrem Tod nicht zurechtkommen, und nur weil du sie sehen kannst heißt das nicht, dass du dein ganzes Leben lang nur damit zubringen musst, diese ganzen Seelen von ihrem Leid zu erlösen."
Langsam drehte sich Inoue ihrer Lehrerin zu. "Diese ganzen Menschen... ich meine, der Typ muss den ganzen Tag nichts anderes machen als irgendwelche Menschen oder Tiere um die Ecke zu bringen!"
Jetzt war es an Yuzuki, sich von ihrer Schülerin abzuwenden und auf die Stadt zu schauen. Inoue beobachtete sie, und für einen kurzen Moment war ihr so, als würde sie das Shinshin Seki ihrer Lehrerin aufflackern sehen. "Das ist aber nicht deine Sache, und schon gar nicht deine Schuld. In aller erster Linie musst du dich um dich sorgen. Wobei..." Endlich drehte sich Yuzuki wieder ihrer Schülerin zu und grinste sie an. "Eigenlich musst du dich in erster Linie um dein Training kümmern. Deine Chakrakontrolle ist fürchterlich! Kein Wunder, dass deine Augen außer Kontrolle geraten!"
Bevor Inoue etwas erwidern konnte, stand Yuzuki von der Dachkante auf und ging mit langsamen Schritten hinter ihre Schülerin. Dort kniete sie sich hin und legte ihr beide Hände auf die Schultern.
"Mach dir keine Sorgen. Mit der Zeit wirst du dich auch an solche Geistermassen gewöhnen, und eines Tages wirst du vielleicht sogar in einem Raum mit einem Arzt sein können, ohne ohnmächtig zu werden."
Inoue, gleichermaßen erfreut und verwirrt über die Worte ihrer Lehrerin, wollte sich noch einmal zu ihr umdrehen, doch da drückten die fremden Hände bereits ihre Schultern nach vorn und schoben sie über den Rand des Daches. Ohne Gegenwehr, völlig perplex rutschte Inoue von der Kante und begann zu fallen.
Drückende Schwüle, ein unangenehmer Gestank nach Desinfektionsmitteln, und ein kratziges Kichern. Trotz der lähmenden Schwere in ihren Gliedern realisierte Inoue sofort, wo sie war. Ohne weiter darüber nachzudenken kämpfte sie gegen das unsichtbare Gewicht an, dass sie hilflos daliegen ließ, und brachte sich so langsam aber sicher in eine sitzende Position. Sie blinzelte einige Male, um die Müdigkeit aus ihren Augen zu scheuchen, und nach und nach bildeten sich erneut die Konturen des schummrigen Arbeitszimers heraus, in dem sie das Bewusstsein verloren hatte. Bevor sie sich jedoch genauer umsehen konnte zwang ihr ein Kratzen in der Lunge einen unangenehmen Hustenanfall auf, der ihren ganzen Körper schüttelte. Als dieser endlich abgeklungen war blickte Inoue auf und erkannte - teilweise erleichtert, teilweise beschämt - dass ihre beiden Partner nun ebenfalls in einem Raum mit Doktor Frankenstein waren, dem eine dunkle Ratte auf der Schulter saß: Das Zielobjekt.
Mit noch etwas geschwächten Gliedern rutschte Inoue an den Rand des Etwas, auf dem saß, hiefte sich hinunter, und kam leicht schwankend auf beiden Beinen auf. Noch bevor sie ihr Gleichgewicht wieder ganz wiedergefunden hatte fixierte sie ihre Partner und sagte:
"Das hat ganz schön lange gedauert. Lasst mich einfach mit diesem Irren hier allein... Wirklich klasse." Mit Blick auf besagten Irren fügte die Yuudari hinzu: "Also, was müssen wir tun, damit sie uns diese verfluchte Ratte aushändigen? Und bevor sie es sagen: Nein, keiner von uns wird sich als Forschungsobjekt missbrauchen lassen."