Um ein Haar hätte sie ihre Maxime, auf alles vorbereitet zu sein, nicht aufrechterhalten können. Der unscheinbare Brief, der eines Morgens ins Haus Kazama gelangt war, trug das offizielle Siegel der Dorfverwaltung. Kein Befehl, der über Eulen oder Boten überbracht wurde, kein Versiegelter Auftrag mit klarer Missionsbeschreibung, einfach nur ein Stück Papier mit Anweisung, kaum von alltäglicher Korrespondenz zu unterscheiden. Doch als Mutter ihn ihr wortlos über den Küchentisch schob, war Yuzuki sofort klar, dass etwas im Argen lag. Der Inhalt war… befremdlich. Es war nicht der Auftrag selbst, der ihr Unbehagen bereitete, sondern seine Natur. Keine Überwachungsmission, kein nächtlicher Einsatz, kein Auskundschaften feindlicher Bewegungen oder das Abwarten im Schatten.
Stattdessen:
Teilnahme an einer Miss-Wahl.
Ein Wettbewerb, von dem sie kaum mehr als vage Hörensagen kannte: Etwas zwischen öffentlicher Zurschaustellung und kultivierter Selbstvermarktung, wie sie es verstand. Und sie? Eingesetzt als Teilnehmerin. Der Grund war dabei ebenso banal wie unüberhörbar: Es fehlte an Freiwilligen. So sehr ihr alles an dieser Art „Mission“ widerstrebte, ihre Haltung blieb dieselbe wie immer:
‚Befehl ist Befehl.‘ Ein Satz, der in letzter Zeit mehr Bedeutung bekommen hatte, als sie sich je hatte träumen lassen. Und so begann sie, sich auf einen Tag vorzubereiten, der ihr mehr abverlangen würde als jede körperliche Herausforderung: Die Kontrolle über ihren Stolz zu behalten.
Und so kam es, wie es kommen musste. In den vergangenen Tagen hatte sich Yuzukis Alltag drastisch verschoben. Weg von strukturierten Trainingsplänen und körperlicher Ertüchtigung, hin zu einem Leben, das sie bislang nur aus der Ferne beobachtet hatte. Der Inhalt ihres Kleiderschranks wurde erweitert, mit Dingen, die sie selbst nie freiwillig getragen hätte, und in einer Ecke ihres ohnehin schon spärlich eingerichteten Zimmers stand nun ein Schminktisch, dessen bloße Anwesenheit sie innerlich schaudern ließ. Niemand im Hause Kazama hegte die Illusion, dass dieses Möbelstück auf Dauer einen Zweck erfüllen würde. Sobald die Veranstaltung vorbei war, würde er ungenutzt bleiben. Das stand fest. Neben formeller Kleidung und Badebekleidung musste sie sich auch mit den feinmotorischen Anforderungen sogenannter „äußerer Pflege“ auseinandersetzen: Makeup, Körperhaltung, Auftreten. Dinge, die in ihren Augen bestenfalls als oberflächlich, schlimmstenfalls als überflüssig galten. Bücher auf dem Kopf balancieren, das Einüben eines künstlichen, überzogenen Gangs. Ein seltsam ritualisierter Ablauf, der sich über Jahre im Spiel in andere Mädchen eingeprägt hatte, wurde nun innerhalb einer einzigen Woche auf sie übertragen. Allein die Vorstellung, dass sie all das tatsächlich zu verinnerlichen hatte, grenzte an ein Wunder. Und doch: Yuzuki hatte sich dem untergeordnet.
Am Morgen der Veranstaltung spürte sie die Konsequenzen ihrer Anpassung körperlich: Ihre Füße brannten. Die Absätze, die sie in den letzten Tagen getragen hatte, um sich an diese absurde Art der Fortbewegung zu gewöhnen, hatten ihre Spuren hinterlassen. Auch das Schminken, eine Tätigkeit, die sie unter Anleitung immer und immer wieder hatte wiederholen müssen, war heute noch nicht erledigt. Ihr Gesicht war frei von jeder Farbe, ganz wie der Auftrag es vorsah. Vielleicht würde sich das im Laufe des Tages noch ändern, je nachdem, ob die Veranstaltung eigene Helfer dafür abgestellt hatte. Wenn ja, wäre die Mühe der letzten Tage umsonst gewesen. Aber selbst das wäre nur ein weiteres Detail in einer Aufgabe, die sie sich nicht ausgesucht hatte, die sie aber trotzdem erfüllen würde.
Ausgestattet mit einem überraschend großen Rucksack, dessen Inhalt neben der notwendigen Tagesverpflegung auch eine beachtliche Sammlung versiegelter Papierstreifen umfasste, von Wundsalben über Ersatzkleidung bis hin zu Notfallplänen, traf Yuzuki am Hintereingang der Eventhalle ein. In gewohnter Manier trug sie ihr langes, schwarzes Haar offen, das ihr wie ein Schatten bis weit über die Hüfte fiel. Ihre Kleidung bestand aus einem funktionalen Kampfdress in Schwarz und gedämpften Grautönen, der ihr Bewegungsfreiheit ließ und weder eindeutig auffällig noch völlig unauffällig war. Es hing ganz davon ab, wie genau man hinsah. Was jedoch nie unbemerkt blieb, waren ihre Augen: Scharf, aufmerksam, auf der Suche. Wie ein Messinstrument scannte ihr Blick die Umgebung. Auf der Jagd nach Ihrer Kollegin, nach jemandem, der dieselbe Missionsteilnahme wie sie zu verbergen suchte. Ninja eben. Dezent, konzentriert, effizient. Deshalb hätte sie beinahe ihre zugewiesene Partnerin übersehen.
Die junge Frau, auf die ihr Blick schließlich fiel, wirkte auf den ersten Blick weniger wie eine Kunoichi und mehr wie jemand, der gerade einen kleinen Ausflug vom heimischen Kräuterbeet machte. Keine Spur von Uniform, keine erkennbare Kampfausrüstung, nichts, das auf klassische Missionsbereitschaft hindeutete. Instinktiv wollte Yuzuki weitergehen bis sie sich an zwei Dinge erinnerte: Erstens, sie suchte jemanden namens Haemasu. Zweitens, sie hatte beiläufig aufgeschnappt, dass diese Familie in irgendeiner Form mit Landwirtschaft in Verbindung stand. Das genügte: Sie blieb stehen. Ihr Blick, kalt, kontrolliert, durchdringend, richtete sich auf die Rothaarige. Ihre Stimme klang, wie man es erwarten konnte: klar, fest, von jeglichem emotionalen Gehalt befreit:
„Haemasu-san, nehme ich an?“ Keine Begrüßung, keine unnötige Umschweife. Nur das Notwendige.
Was wusste Yuzuki über die Haemasu? Bis vor wenigen Tagen wäre die Antwort schlicht gewesen: Nichts. Kein Name, keine Gesichter, kein Ruf, der sich in ihrer Welt festgesetzt hatte. Doch nachdem ihr Vater seine üblichen, ihr stets verschlossenen Fäden in Bewegung gesetzt hatte, war zumindest ein vages Bild entstanden. Die Haemasu, so hieß es, hätten eine besondere Verbindung zu Pflanzen, kümmerten sich um Gärten, Heilkräuter, vermutlich auch um die Grünflächen des Dorfes. Was das mit Shinobi-Arbeit zu tun hatte, blieb ihr schleierhaft. Doch ein kleiner, leiser Teil in ihr empfand Sympathie für diese Vorstellung: Ein Clan, der sich inmitten von Schmutz und Stahl für etwas wie Wachstum und Pflege entschied. Und wenn sie ehrlich war, gefiel ihr auch einfach der Klang des Namens Haemasu.
Ob das Leben von Setsuko ruhiger war als ihr eigenes? Vielleicht. Vielleicht nicht.
Yuzuki ließ den Gedanken versanden, wie so viele, die nicht zum Zweck beitrugen, und wartete ruhig, bis ihre Gegenüber sich zu erkennen gab. Erst dann, mit der formalen Kühle eines Rituals, erwiderte sie:
„Es ist mir eine Freude, dich kennenzulernen.“ Mit einer ruhigen, beinahe lautlosen Bewegung glitt ihre Hand an die kleine Ausrüstungstasche an ihrer Taille. Die Bewegung ließ kurz vermuten, dass sie ein Wurfmesser zog, doch stattdessen hielt sie wenig später ein gefaltetes Schriftstück in der Hand. Der Brief der Dorfverwaltung, der ihr diese ungewöhnliche Aufgabe eingebracht hatte. Ihr Blick wechselte zwischen dem Dokument, der Eventhalle und ihrer Partnerin hin und her, während sie sich bereits in Bewegung setzte.
„Dies ist der Ort?“ Die Frage war offensichtlich rhetorisch, mehr eine Bekräftigung als eine Bitte um Bestätigung. Dennoch erhielt sie eine Antwort, die aus der Tonlage fiel wie ein bunter Pinselstrich auf ein monochromes Bild:
„Hon-hon! Natürlisch, Mademoiselle, dies ist der Ort.“ Yuzukis Blick wanderte weiter zur offenstehenden Tür der Halle, und in dem Moment, in dem ihr klar wurde, was sie dort erwartete, durchzuckte sie ein winziger Schock. Kein sichtbares Zucken, kein Laut, keine Mimikveränderung. Aber in ihrem Inneren verlor der Wind für einen Moment an Kraft.
Viel zu viel Make-up, viel zu viel Parfüm, viel zu viel… einfach von allem. Das war der erste Eindruck, der den beiden Kunoichi entgegenschlug. Eine Frau gehobenen Alters, sichtlich bemüht, den Glanz ihrer vergangenen Jahre mit dicken Schichten aus Rouge, Lidschatten und Theatralik zu konservieren, trat ihnen mit einem gestelzten, allzu einstudierten Gang entgegen. Noch ehe ein Wort gewechselt wurde, begann sie, die beiden wie Ausstellungsstücke zu umrunden. Langsam, bewusst, mit kalkulierter Eleganz. Ihre Blicke blieben hier und da hängen; ein prüfendes Nicken, ein missbilligendes Zucken in den zu stark konturierten Lippen.
Yuzuki stand wie ein Fels in der Brandung. Still, aufrecht, unbeweglich. Doch innerlich drang die Situation unangenehm tief unter ihre Haut. Ihre Sinne warnten sie! Nicht vor Gefahr im klassischen Sinn, sondern vor dem, was ihr bevorstand: Ein öffentlicher Auftritt. Blicke, die nicht suchten, sondern urteilten. Fremde Menschen, die ihre Gestalt mit kalkulierter Gründlichkeit mustern würden. Jeder Schritt, jede Geste, jede noch so kleine Regung würde gewertet. Dieser Moment war nur der Auftakt; ein winziger Vorgeschmack auf das, was ihr bevorstand. Und dennoch: Rückzug war keine Option. Ihre Füße mochten schmerzen, ihr Bauch sich zusammenziehen, doch ihr Wille stand fester denn je. Dies war ein Auftrag. Und ein Auftrag wurde nicht in Frage gestellt, er wurde zu Ende gebracht!
‚Ich muss gewinnen…
Ich werde gewinnen!‘
@Haemasu Setsuko