Mit sorgsam verborgener Neugier verfolgte Yuzuki das Auftreten der letzten Teilnehmerin: Setsuko. Ihre Miene blieb unbewegt, die Arme vor dem Obi gefaltet, die Haltung aufrecht, das Kinn minimal geneigt. Nur ihr Blick, ein winziger, kaum wahrnehmbarer Ausschlag zur Seite, verriet, dass sie die Szene aufmerksam musterte. Sie hatte sich darauf eingestellt, eine eher verhaltene Leistung zu sehen. Immerhin handelte es sich um ein Giraffenkostüm. Die Realität auf dem Laufsteg widersprach jedoch ihren Erwartungen. Das Auftreten ihrer Kollegin war weder peinlich noch lächerlich, sondern … selbstsicher, eigenwillig, von einer fast irritierenden Leichtigkeit getragen. Setsuko bewegte sich, als wäre sie tatsächlich stolz auf das, was sie da trug. Ein Gefühl, das Yuzuki weder teilte noch verstand. Ihre Brauen zuckten unmerklich, als sich die Juroren über ihr Klemmbrett beugten. Sekunden später erschien das Ergebnis auf dem Monitor.
Ein Sekundenbruchteil Stille in Yuzukis Kopf. Dann:
‚8,3 … wie?‘
Ihr Blick blieb auf die Zahl geheftet, als könne sie sich bei längerem Hinsehen in etwas Logischeres verwandeln. Es geschah nicht. Die Diskrepanz zwischen dem, was sie sah, und dem, was offenbar als Bewertungskriterium galt, entzog sich ihrem Verständnis. Das Kostüm war weder ansehnlich noch im entferntesten passend für einen Schönheitswettbewerb. Es war kindisch. Abwegig. Affig. Ihrer Einschätzung nach hätte es in einem Bühnenstück über zoologische Lehrmethoden eine bessere Heimat gefunden als hier.
Eine Weile versuchte sie, sich auf rationalem Weg zu erklären, wie sich diese Bewertung zusammensetzte. Ohne Erfolg. Vielleicht … mochte das Publikum den Mut zur Absurdität? Vielleicht … war ihre eigene Definition von Eleganz zu eng? Oder vielleicht … war das ganze System einfach fehlerhaft. Das war zumindest ein Gedanke, mit dem sie leben konnte. Noch ehe sie zu einer abschließenden Einschätzung gelangte, löste eine Stimme die gedankliche Starre: Setsuko war längst wieder Backstage und wie selbstverständlich, holte sie Yuzuki mit einer beiläufigen Bemerkung zurück ins Hier und Jetzt.
„Danke.“ Mehr kam nicht über ihre Lippen. Die Worte waren knapp, fast zu leise für die Geräuschkulisse im Backstagebereich, aber mit der Klarheit und Präzision ausgesprochen, die ihr eigen war. Das Kompliment zu erwidern … das brachte Yuzuki nicht über sich. Nicht, weil sie dazu prinzipiell nicht fähig war, sie konnte lügen, wenn nötig, und das mit beängstigender Konsequenz. Täuschung war kein moralisches Dilemma für sie, sondern ein Werkzeug, das zu beherrschen man von ihr erwartete. Aber hier? In diesem Moment?
Die Kluft zwischen innerer Wahrnehmung und ausgesprochener Höflichkeit wäre zu groß gewesen. Setsuko sah nach Yuzukis Einschätzung gut aus, das ließ sich kaum bestreiten. Ihre Gesichtszüge waren weich, ihre Augen lebhaft, ihr Lächeln charmant und mitreißend. Und dennoch konnte Yuzuki das Giraffenkostüm beim besten Willen nicht mit einem ernstgemeinten Lob versehen. Nicht, ohne ihre eigenen Prinzipien zu verraten. Es war, als hätte jemand ein Gemälde in einen Papprahmen gezwängt und es dann als Avantgarde bezeichnet. Ein weiteres Mal fragte sie sich, ob sie die Welt um sich herum falsch las.
„Ja, das liegt an den Bühnenscheinwerfern.“ Ihre Stimme war ruhig, sachlich. Eine Feststellung, kein Ausdruck von Empfinden. Tatsächlich war es sehr warm draußen gewesen. Das Licht brannte förmlich auf der Haut, ließ jeden Atemzug schwerer wirken. Während ihres kurzen Auftritts hatte sich die Frage aufgedrängt, ob sie vergessen hatte, ein Antitranspirant aufzutragen. Ein peinlicher Gedanke, der aber zur aktuellen Realität dieses absurden Wettbewerbs passte.
„Die wenigen Sekunden, die ich dort draußen stand, waren aber erträglich.“ Kein Gejammer, kein Geplänkel, nüchterne Analyse. Konversation war nicht ihre Stärke, nicht ihre Leidenschaft und gewiss nicht ihr Ziel. Aber Information war eine Währung. Und wo Smalltalk nichts brachte, konnte ein fachlicher Austausch unter Umständen durchaus nützlich sein. Vielleicht nicht für sie, aber für die Mission.
In diesem Sinne zerschnitt sie Setsukos vorsichtigen Versuch, in eine lockere Unterhaltung zu entgleiten, mit chirurgischer Präzision:
„Als nächstes folgt der Talent-Teil des Wettbewerbs. Hast du bereits eine Idee, was du zeigen wirst? Ich bin noch unentschieden, ob ich auf klassische Kunai-Künste oder eine Teezeremonie setzen soll.“ Der Bruch in der Stimmung war beinahe spürbar, als hätte sie mit einem unsichtbaren Katana die Gesprächsdynamik gekappt. Aber es war besser so. Ablenkung konnte man sich leisten, wenn es nichts mehr zu verlieren gab. Yuzuki hingegen plante zu gewinnen.
Während ihrer Unterhaltung glitten Yuzukis Augen immer wieder unauffällig zum Monitor, auf dem die Bewertungen der restlichen Teilnehmerinnen eingeblendet wurden. Abgesehen von Setsukos auffälligem Giraffenkostüm ließen sich dort keine nennenswerten Überraschungen mehr entdecken: Die Petfluencerin, deren gesamtes Konzept sich um die Abgötterei des Hundtums drehte, hatte die mit Abstand niedrigste Bewertung erhalten. Falls sie überhaupt eine Chance auf das Weiterkommen haben wollte, würde sie diese allein durch ihre Darbietung in der Talentrunde rechtfertigen müssen.
Wenigstens war das Yuzukis bisherige Annahme. Doch der Koordinator des Wettbewerbs belehrte sie mit wenigen Sätzen eines Besseren. Mit dem Klemmbrett in der Hand verkündete er knapp, dass die beiden Kandidatinnen mit der schlechtesten Bewertung auf der Bühne offiziell verabschiedet wurden und forderte alle Teilnehmerinnen auf, sich dafür zu versammeln und bereit für den nächsten Auftritt auf der Bühne zu machen.
‚Was … sofort?‘ Yuzuki gefiel diese Art der Inszenierung nicht. Der Gedanke, die Niederlage Einzelner so demonstrativ zur Schau zu stellen, war ihr zuwider. Nicht aus Mitleid sondern weil es bedeutete, dass auch sie ihre eigenen Schwächen öffentlich offenbaren müsste, sollte ihr Beitrag als unzureichend empfunden werden. Es war ein Verlust an Kontrolle, den sie sich nur ungern eingestand. Versagen an sich war schon eine unangenehme Sache, aber es öffentlich breitzutreten setzte dem Ganzen die Krone auf. Doch sie schwieg. Eisern.
‚Das sind … SuperMiyuki und … wie war ihr Name noch gleich?‘
Den zweiten Namen hatte sie vergessen. Eine Randfigur. Irgendeine junge Frau, die sich für eine überzeichnete „feurige Lolita“-Ästhetik entschieden hatte. Ein mutiges Konzept, das wohl ebenso mutig gescheitert war.
Unverzüglich reihten sich die Teilnehmerinnen auf, Schulter an Schulter, bereit, gemeinsam die Bühne zu betreten. Auch Yuzuki und Setsuko fanden sich in der Mitte dieser Formation wieder. zwei unter zehn; bald acht, und doch jede mit ihrer eigenen Geschichte. Kaum setzte sich der Zug in Bewegung, kehrten jene Blicke zurück, die Yuzuki bereits unangenehm aufgestoßen waren: stummes Beobachten, vermischte Eindrücke aus Neugier, Urteil und Erwartung. Und abermals war es diese unwillkommene Aufmerksamkeit, gegen die sie innerlich ankämpfen musste. Das Licht, das auf der Bühne lag, brannte bereits in Gedanken.
Mit einem flüchtigen Seitenblick ließ sie ihre Augen über die beiden ausgeschiedenen Teilnehmerinnen wandern. Auf den ersten Blick wirkten beide gefasst, doch bei genauerem Hinsehen offenbarte sich ein differenzierteres Bild: SuperMiyuki stand da, als hätte sie den Wettbewerb nie ernst genommen: mit jenem selbstgewissen Lächeln, das einem die Absolution erteilte, bevor man sie verlangt hatte. Die zweite hingegen, das Mädchen in Lolita-Aufmachung, wirkte äußerlich ruhig, doch ihr Blick war einen Hauch zu starr, die Haltung ein wenig zu aufrecht. Ihre Contenance zeigte feine Haarrisse.
Yuzuki empfand Verständnis, doch kein Mitleid. Nur ein leises, nüchternes Einsehen. Das gewählte Konzept war extravagant gewesen, mutig sogar. Vielleicht hätte es unter anderen Umständen besser abgeschnitten … doch das Ergebnis stand fest. Und der Wettbewerb war erbarmungslos.
Kaum hatten alle ihre Plätze auf der Bühne eingenommen, leuchteten die bisherigen Punktzahlen erneut auf dem Monitor auf. Eine letzte Rückschau, bevor der Fokus sich neu verschieben würde. Einer der Juroren, ein untersetzter Mann mit lockigem Haar und zu offenem Hemd, ergriff das Mikrofon und richtete einige Worte an das Publikum. Es war eine höfliche, beinahe salbungsvolle Ansprache, gespickt mit Lob, das zugleich wie ein Trostpflaster wirkte. Dann nannte er die Namen der beiden Ausgeschiedenen. Zuerst wandte er sich an die Lolita, würdigte ihre Originalität und ihren Mut, und entließ sie mit wohlwollenden Worten aus dem Wettbewerb. Das Mädchen verneigte sich leicht, fasste sich noch einmal und sprach mit fester Stimme: Sie wolle nächstes Mal stärker zurückkommen und wünsche den verbleibenden Teilnehmerinnen viel Erfolg.
Dann betrat SuperMiyuki das Rampenlicht zum letzten Mal. Mit dem Selbstbewusstsein eines Popstars, nicht einer Verliererin. Sie lächelte strahlend, winkte überschwänglich in die Kameras und hob die Stimme mit perfekt einstudierter Betonung:
„Sehr schade, dass es heute nicht geklappt hat. Aber seid unbesorgt! Ich werde heute Abend ein Video von meiner Hundeshow hochladen, die ich mir eigentlich für den Talentwettbewerb aufsparen wollte! Seht es euch an, liked und lasst ein Abo da! Exklusiv auf ShiroTube und NinjaGram! SuperMiyuki!!“
Der Applaus war verhalten: Höflich genug, um als Zustimmung durchzugehen, aber zu kurz, um aufrichtig zu wirken. Yuzuki konnte nicht sagen, ob das Publikum schlicht erleichtert war, dass der Monolog ein Ende gefunden hatte, oder ob es sich der Peinlichkeit dieser Werbeeinlage einfach entziehen wollte. Wahrscheinlich beides. Sie selbst klatschte nicht. Es wäre ein falsches Signal gewesen. Als das letzte Klatschen verklang, abrupt, beinahe erleichtert, trat der Juror erneut nach vorn. Seine Stimme war nun energischer, als wolle er sich absichtlich von der vorherigen Szene abgrenzen. Die acht verbliebenen Teilnehmerinnen wurden offiziell für die nächste Runde angekündigt und durften den Rückweg backstage antreten.
Doch noch bevor jemand sich regte, folgte eine Ankündigung, die fast beiläufig, aber umso wirkungsvoller eingestreut wurde: In der kommenden Runde würden nicht zwei, sondern gleich drei Teilnehmerinnen ausscheiden. Und: Die Reihenfolge würde umgekehrt zur vorherigen Aufstellung verlaufen.
Ein kurzer Moment des Stillstands. Yuzukis Blick verengte sich leicht.
‚Das heißt … Setsuko ist vor mir dran.‘ Eine kleine Änderung und doch konnte sie das gesamte Gleichgewicht beeinflussen. Nicht zuletzt, weil die eindeutige Favoritin, Tanaka Yukiko den Abschluss bildete und sich damit praktisch das Endranking bis zuletzt noch deutlich ändern könnte.
@Haemasu Setsuko