Trotz der ruhigen Aura des Mädchens, das gelassen und mit einem verständnisvollen Lächeln ihm gegenüber saß und jedem seiner Worte lauschte, fühlte sich Kimihiro zunehmend unwohl. Nicht nur, dass das Thema des Gesprächs einfach viel zu aufreibend für einen Künstler war, der eigentlich nur raus wollte, um seiner Arbeit mehr oder weniger eifrig nachzugehen, ihn beschlich zudem mehr und mehr das Gefühl, dass er sich gerade erst ansatzweise einem Thema widmete, das den Rahmen eines kurzen Besuchs bei einer Wahrsagerin sprengte – in manchen Fällen sprengte es schließlich sogar den Zeitrahmen eines ganzen Lebens!
Hinzu kam, dass ihm die verständnisvolle Art des hübschen Mädchens langsam auf den Magen schlug. Nicht, dass er die Gesellschaft der jungen Frau nicht genossen hätte, doch… wer war er, dass er diese Fremde mit seinen lächerlichen Problemen belud? Noch dazu umfasste dieses Beladen Geschichten über andere Mädchen, die die kleine Hexe wohl niemals kennenlernen würde, und… es fühlte sich schlichtweg nicht richtig an. Ein anderes Thema, Small Talk, irgendetwas, dann hätte sich Kimihiro wohl rundum wohl fühlen können in diesem wohligen Zimmer mit den duftenden Kräutern und dieser zarten Gesprächspartnerin. So jedoch sah er sich als Eindringling in die Welt einer Fremden, die ihrerseits ganz bestimmt auch Probleme hatte. Das Leben als Weissagerin konnte nicht ohne Probleme sein, ganz unmöglich. Wie mochte es sich anfühlen, jeden Monat, jede Woche, jeden Tag unter Fremden zu sein, keinen Ort seine Heimat nennen zu können, und scheinbar so ganz ohne Familie unterwegs zu sein?
Je mehr er darüber nachdachte, desto schlechter fühlte er sich, und je schlechter er sich fühlte, desto törichter kam er sich vor. Er belud das Mädchen mit seinen Problemen, und schob das daraus resultierende schlechte Gefühl auf Vorurteile! Vielleicht fühlte sie sich wohl, vielleicht war ihr Vater der Verkäufer zwei Stände weiter, vielleicht, vielleicht, vielleicht.
„Es ist lächerlich und unlogisch, sagst du? Aber dann gibt es doch keinen Grund, sich aufzuregen, oder?“
Die Gegenfrage des Mädchens war fast genauso lächerlich simpel wie seine eigene. Warum regte er sich überhaupt so auf, ja… was war das Grundproblem? Junko hatte ihn gefragt, warum er in Itoes Gegenwart angeblich so nervös wurde. Was sie aber mit diesem Satz implizierte, dass er… wieso machte ihn der Gedanke so nervös? Oder anders gefragt: Bedeutete das eine überhaupt das andere? Fakt war doch, dass es viele Situationen gab, in denen er nervös wurde: Nicht nur Itoe, auch Junko hatte ihn doch schließlich in einen solchen Zustand versetzt. Und diese ganze Zeltatmosphäre verursachte auch allerlei Reaktionen ihn ihm, doch „Wohlbefinden“ war garantiert nicht dabei. Aber bedeutete das, dass die Hyuuga genauso gut das Zelt einer Hexe sein könnte, ohne dass sich dabei etwas an ihrer Beziehung geändert hätte?
*Was für ein Vergleich…*
Nein, das war es nicht. Aber… was zum Teufel war es dann? Warum wühlte ihn diese ganze Situation derart auf? Junko hatte nur ein paar dämliche Fragen gestellt, nur um ihn dann in das Zelt irgendeiner Wahrsagerin zu schubsen. Gut, das war unangenehm und etwas verwirrend, aber es war weder schrecklich, noch bösartig, noch hinterhältig, gemein oder sonst irgendetwas in diese Richtung. Also warum?
Die Antwort lag klar auf der Hand, doch in den Kopf des Misumi wollte sie nicht, und in seinen Mund schon gleich doppelt nicht. Wäre ja auch noch schöner, wenn er in diesem fremden Zelt gezwungenermaßen irgendwelche Geständnisse ablegte. Und das alles dann auch noch nur, weil seine ach so pflichtbewusste Teamleiterin ihre Spielchen mit ihm treiben wollte? Genau dann schon dreimal nicht. Aber was blieb ihm übrig? Die Frage des Mädchens hing noch immer im Raum, und einfach wütend aus dem Zelt zu rennen wäre alles andere als höflich. Die Wahrsagerin mochte auch noch so unliebsame Wahrheiten zu Tage gefördert haben, doch das hatte sie wirklich nicht verdient. Also, was nun?
Noch einmal rieb sich Kimihiro die pochende Stirn. Ganz langsam zogen sich die Schmerzen zurück, war der Konflikt doch zumindest auf eine Art gelöst. Vielleicht bildete sich der Künstler diese Entwicklung aber auch nur ein, klammerte er sich doch krampfhaft an seinen Plan, die ganze Nachdenkerei an dieser Stelle zu beenden. Es gab wahrlich genug Fragen für heute, er war erschöpft, fühlte sich wie gerädert, und wollte nichts lieber als eine große Portion frische Luft in seinen Lungen zu spüren. Als Kimihiro schließlich in seinen Kimono griff, um seine Geldbörse hervorzuziehen, sah er seinem Gegenüber eine ganze Weile lang nicht einmal in die Augen. Einen Moment später kramte er suchend nach einigen Scheinen in seiner Börse herum, während er mit möglichst fester Stimme fragte: „Deine Großmutter hatte etwas von einer Gebühr gesagt. Wieviel schulden wir euch denn?“ Dabei nutzte Kimihiro ganz gezielt das Wort „Wir“ ,denn es stand außer Frage, dass Junko genauso für die anfallenden Kosten verantwortlich war die er, genau genommen sogar weit mehr als der Künstler selbst.
Ob die Wahrsagerin versuchen würde, ihren Kunden doch noch aus der Reserve zu locken? Vielleicht, aber fest stand, dass Kimihiro an diesem Tag gar nichts zugeben würde. Die junge Ayame hatte dem Künstler gemeinsam mit ihrer weißhaarigen Komplizin eine Tatsache vor Augen geführt, von der er selbst gar nicht wusste, ob er sich ihr zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt stellen wollte. Dafür war alles einfach viel zu schnell gegangen. Die Sache war zu groß, es war zu früh am Tag, es war der falsche Augenblick, und überhaupt… Nein, es war einfach noch nicht soweit. Blieb nur zu hoffen, dass das Mädchen das begriff und akzeptierte.
Das Gör war stolz, oh ja, doch besaß sie auch genug Kraft, um ihren Stolz wirklich durchzusetzen. Nicht wie so viele andere, die gekränkt um sich schlugen, nein: Das weißhaarige Mädchen blieb ruhig, sammelte sich, und versuchte geschickt, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Das schlanke Kartendeck in der Hand, welches sie unterbewusst bereits gründlich durchmischte, lauschte sie jedem einzelnen Wort des Mädchens aufmerksam. Es stand wirklich sehr schnell fest, dass sie ebenso wie Chigai zuvor versuchte, etwas über ihr gegenüber zu erfahren, indem sie die verschiedensten Hintergrundvarianten für die alte Hexe durchprobierte. Dabei stellte sie sich tatsächlich gut genug an, um einige Treffer zu landen, während einige Kommentare auch ins Leere gingen.
Welche nun jedoch der Wahrheit entsprachen und welche nicht, das behielt die alte Frau hinter einem sanften Lächeln versteckt, das sie schon Jahre, ach, Jahrzehntelang studierte.
Mit exakt diesem Lächeln holte sie nun auch zu einer Antwort für die kleine Göre aus, die sie nur allzu gut an jemanden aus ihrer Vergangenheit erinnerte. „Kindchen, ich muss sagen, dass mir schon lange niemand so standhaft Paroli geboten hat wie du. Deshalb werde ich dich auch belohnen, glaube mir, aber zuerst zu deiner Bitte nach meiner Einschätzung.“
Mit ermahnend hochgehobenem Zeigeinger fuhr sie fort: „Die wichtigste deiner Aussagen, die allerwertvollste, war deine erste: Die, dass ihr glücklich wärt. Sie kam aus eigenem Antrieb, ohne eine Frage meinerseits, und ist dir ganz augenscheinlich ungewollt rausgerutscht. Aus Trotz, wie ich meinen will, doch das tut nichts zur Sache. Wie auch immer, weil dies deine erste Aussage trägt sie sicherlich die meiste Wahrheit in sich, aber versteh mich nicht falsch: Ich glaube ganz und gar nicht, dass ihr glücklich seid. Wieso?“ Ein lockerer Wink in Richtung des leeren Flecks Erde, der neben Junko klaffte, und die Sache war klar: „Wärt ihr wirklich glücklich, stünde er jetzt dort.
Damit wären wir auch schon bei deinen restlichen Ablenkungsmanövern. Hmm… was war das erste? Lass mich nachdenken…“ Kurz legte sich die alte Dame nachdenklich Zeige- und Mittelfinger gegen die Stirn, dann folgte ein triumphierendes Schnipsen. „Natürlich. Dass du keinen Freund haben sollst ist eine Lüge. Deine wertvolle erste Aussage verbietet das – vorausgesetzt du bist keine unsichere Irre, die schon so oft einen erfundenen Freund vorgeschoben hat, dass ihr diese Lüge automatisch herausrutscht. Insofern: Abgewiesen. Dass er eine andere küsst… nun, das könnte durchaus sein, muss ich zugeben. Es würde erklären, warum ihr nicht glücklich seid, was wir zu Anfang ja als Voraussetzung für alles weitere festgesetzt haben. Mehr kann ich dazu im Moment nicht sagen. Das mit dem Jugendfreund ist jedoch genauso großer Humbug, wie die Geschichte von wunschlosem Glück. Dass ihr nicht miteinander redet erscheint mir dagegen wieder genauso plausibel wie die Geschichte, dass er dich hintergeht und du den Schein wahren möchtest. Ja, die Märtyrerrolle steht dir wirklich gut, das muss ich sagen. Das mit der Unsichtbarkeit…“ Chigai machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wir haben schon festgestellt, dass du keine Irre bist, also auch hier: Abgewiesen.
Damit wären wir auch schon bei deinen letzten beiden Kommentaren: Ja, ich bin mir sicher, dass du vieles gesagt hast, das mich verwirren sollte, immerhin haben wir das gerade besprochen. Wir haben aber auch davon gesprochen, dass Lügen ein Körnchen Wahrheit enthalten muss, und wie gesagt: Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, dass dich dein Freund betrügt. Vielleicht nicht mit einem Mädchen, aber… außer dir trägt er noch irgendetwas anderes in seinem Herzen, das die Wurzel des Problems darstellt. Was das aber ist kann ich nicht sagen, doch andererseits… bestimmt brauchst du meine Hilfe auch nicht, um es herauszufinden. Lass mich nur so viel sagen: Es gibt Dinge, ohne die eine Beziehung nicht auskommt. Keine Beziehung.“
Nach einem tiefen Seufzer – solche Reden waren einfach nichts mehr für ihre lahme Zunge – hielt sie schlussendlich das Kartendeck in die Luft, welches sie immer mal wieder durchgemischt hatte. Es war Zeit, dem Mädchen seine Belohnung zu überreichen: Den Rat einer alten Hexe, verpackt in einem kleinen Taschenspielertrick. Also klopfte die alte Frau mit ihren morschen Fingerknöcheln zweimal gegen ihr Deck, und blies anschließend darauf. Dabei lösten sich einige Karten aus dem Deck, doch anstatt einfach zu Boden zu fallen, schwirrten sie durch die Luft, drehten sich, und standen letztlich in einer geraden Reihe vor Junkos Gesicht in der Luft, allerdings mit dem Rücken zu ihr. Als Iroki dann jedoch zu sprechen begann, drehten sich die Karten nacheinander automatisch um, sodass das Mädchen die kunstvoll geschaffenen Motive bewundern konnte, über denen in fester, wie in Stein gemeißelter Schrift jeweils eine Nummer und ein Titel prangten.
Die erste Karte, die sich drehte, zeigte einen jungen Mann mit kurzen, braunen Haaren und Brille, der kopfüber an einer Art Ast hing. Sie trug den Schriftzug „XII – Der Gehängte“.
„Welche Liebe deine Liebe neben dir auch immer in seinem Herzen tragen mag, du musst lernen, damit zurechtzukommen. Entweder du wartest geduldig, bis diese Liebe vergeht, oder du versuchst, die Sache aus einem anderen Blickwinkel heraus zu betrachten. Seiner wäre zum Beispiel keine schlechte Wahl.“
Die zweite Karte drehte sich. Diese bildete eine junge Frau mit langen, dunklen Haaren ab, die mit zwei Kelchen in den Händen an einem Fluss stand. „XIV – Der Ausgleich“.
„Kompromisse und Kommunikation sind nun mal das A und O, und solange ihr beiden eure eigenen Wünsche, Träume und Hoffnungen nicht in Harmonie zu bringen vermögt, werdet ihr unglücklich bleiben.“
Dann drehte sich die dritte Karte. Auf ihr prangte die hochgewachsene Gestalt einer kriegerisch gekleideten Frau mit zwei schwarzen Zöpfen. Ein eindrucksvoller weißer Löwe lag ihr zu Füßen. „VIII – Die Kraft“.
„Denkt stets daran, dass es eine Menge Arbeit und Zeit benötigt, eine Beziehung aufzubauen und am Leben zu erhalten. Schaut trotzdem selbstbewusst in die Zukunft und vertraut auf euren Erfolg.“
Die vierte und letzte Karte drehte sich. Auf ihr war ein junger Mann in bunter Verkleidung zu sehen, der sich vergeblich an einem Handstand versuchte. „0 – Der Narr“.
„Solltet ihr aber der Meinung sein, dass die ‚wahre Liebe‘ auch ohne Arbeit auskommt, sich alles von selbst richten wird und eure Träume genauso in Erfüllung gehen werden, wie sie in euren Köpfen herum spuken, ohne dabei die des anderen zu beachten… nun, die Botschaft ist klar, oder? Andererseits… wenn ihr euch anstrengt, miteinander voranschreitet und als echte Partner gemeinsam die Probleme angeht, vor denen ihr steht und stehen werdet…“
Ein weiteres Mal holte die alte Frau Luft und pustete gegen ihre Karten – dieses Mal war ihr Ziel jedoch die letzte Karte der Reihe, die sich erneut zu drehen begann.
„Nun, wer weiß, was dann passieren wird?“
Die Karte drehte sich weiter, wurde dann langsamer, und als sie zum Stillstand kam, zeigte sie nicht mehr länger den tanzenden Jüngling, sondern einen rothaarigen Mann und eine weißhaarige Frau, die Rücken an Rücken die Hände ineinander verschränkt hielten und zu einem Himmel voller Sterne emporblickten. „VI – Die Liebenden“.
Am Ende dieser kleinen Vorführung grinste die alte Wahrsagerin ihre unfreiwillige Kundin an. Unversehens sausten alle Karten zurück in das Deck, das die Dame noch immer in der Hand hielt – alle, bis auf eine. Die letzte der Reihe pflückte sie eigenhändig aus der Luft und streckte sie Junko entgegen. Jegliches Zögern und Zaudern wurde mit einem kurzen Befehl weggefegt: „Nun nimm schon und sei dankbar, die geht immerhin aufs Haus!“