Es wäre übertrieben zu sagen, dass Ray sich zwischen diesen beiden Hünen wohl gefühlt hätte. Beide hätten wahrscheinlich mit Leichtigkeit gegen den schmächtigen Jungen im Armdrücken gewonnen und beide waren allein von ihrer Gestalt her Respektspersonen, die mehr oder weniger eine natürliche Autorität. Von daher konnte sich der Falkenjunge wirklich, wirklich glücklich schätzen, dass diese beiden mit ihm kooperierten und ihm seine Ansprache nicht im geringsten übel nahmen. Die subtilen Reaktionen, wie das Arme verschränken des Weißhaarigen, die hochgezogenen Augenbrauen des Kapitäns und ähnliches nahm das scharfe Auge zwar wahr, aber konnte das Gehirn dahinter sie nicht wirklich verarbeiten.
Ray war erstmal froh, dass er eine kleine Atempause bekam, als der Kapitän sich dem anderen Chuunin zu wand. Fast schon erschrocken stellte er fest, wie schwer sich seine Schultern anfühlten. Es war als ob dort eine imaginäre Last lag. Für einen Moment irritierte ihn das so sehr, dass er nur am Rande die Dinge mitbekam, die Tetsuya von sich gab. Lediglich Stichpunkte wie stark, widerstandsfähig, Nahkampf und Katon drangen zu ihm durch. Letzteres war das einzig wirklich überraschende. Die Reaktion des bärtigen Seemanns hingegen bekam er nicht wirklich mit, den seine Gedanken waren nach innen auf die imaginäre Last seiner Schultern gerichtet. Konnte das die viel gerühmte Last der Verantwortung sein? Aber wenn dem so war, wieso wirkte sie plötzlich so massiv, beinahe schon lähmend. Er war doch schon einige Male Leiter gewesen, hatte mit Kaya eine Band beschützt, hatte einen Bauernstreit gelöst, gut letztere hatte sich mehr oder weniger selbst gelöst, aber trotzdem. Doch noch ehe er weiter darüber nachgrübeln konnte, legte sich ein kräftiger Arm um seine Schultern und der Weißschopf blickte ihm direkt in die Augen. Normalerweise war es eher Ray, der mit seinen schwarzen Raubvogelaugen sein Gegenüber verunsicherte, aber diesmal war er leicht verunsichert. Die ganze Situation war doch eine ziemlich große Nummer, vielleicht sogar zu groß für ihn. Er wollte schon zu einer Antwort auf die kritische Nachfrage ansetzen, da prustete der andere Chuunin los und boxte ihm heftig in die Schulter. Autsch, das tat weh und beinahe hätte sich Ray mit schmerzverzerrtem Gesicht die Schulter gerieben. Vielleicht sollte er sich doch mal um seinen körperlichen Widerstand kümmern, anstatt Chakrakontrolle, Geschick und Geschwindigkeit noch mehr zu erhöhen. "... aber ich bin auf deiner Seite und du kannst dich auf mich verlassen, Boss." hörte er noch die letzten Worte, bevor sich Tetsuya mit einem Grinsen abwand. In diesem Moment flutete eine sanfte Welle den Körper des Hayabusa. Die schwere Last auf seinen Schultern wurde quasi weggespült, die kleinen Sorgenfalten in seinem Gesicht glätteten sich und wie von selbst kam das selbstbewusste, schelmische Lächeln zurück. Wahrscheinlich realisierten weder der eine noch der andere Chuunin die Bedeutung dieser Worte, aber es waren die viel gerühmten Worte zur genau richtigen Zeit. Ein Riesenstein entfernte sich vom Rotschopf und es fühlte sich an, als ob er gleich 10cm größer war, nicht, dass das irgendjemandem auffallen würde, selbst wenn dieses Wachstum real gewesen wäre. Sämtliche Anspannung war verflogen und Ray war wieder Ray, doch bevor er seinem Retter danken konnte, war dieser schon verschwunden und vom Kapitän zum Segeln helfen eingeteilt, eine Aufgabe, die er mit Feuereifer anging. Scheinbar genau die richtige Aufgabe für einen Muskelprotz wie ihn.
Nun war es nicht so, dass Ray keinerlei Seemannserfahrung beizutragen hatte. Als Shinobi aus Soragakure war es unvermeidlich, dass man auf die ein oder andere Seereise geschickt wurde, nichtsdestotrotz war das Segeln nicht seine größte Stärke. "Ey Boss," tönte die tiefe Stimme des Kapitäns über Deck und Ray musste grinsen. Schien so, als ob er einen neuen Spitznamen bei den beiden Hünen hatte. Irgendwie war er ein wenig stolz darauf, denn auch wenn es nicht ernstgemeint war und wahrscheinlich weder Kiriko noch Tetsuya ihn wirklich als Boss sahen, so schwang doch eine respektvolle Note mit. Auch wenn er so viel jünger war, wurde er respektiert und anerkannt. Stellte sich nur die Frage, ob diese Anerkennung allein darauf basierte, dass er bisher nichts getan oder gesagt hatte, was den beiden gegen den Strich ging. Ob sie wohl auch seine Leitung akzeptieren würden, wenn er die ein oder andere Entscheidung traf, die sie so nicht treffen würden? Das würde wohl die Zeit zeigen. "Was gibt's Käpten?" erwiderte Ray und wandte sich dem Seemann zu. "Ich brauch meine Instrumente aus dem Lager. Noch sieht das Wetter gut aus, aber sobald wir die Bucht verlassen, will ich wissen, wie der Wind steht, was der Luftdruck macht und wo der nächste Sturm ist. Also geh unter Deck und hol sie mir." "Aye,Aye!" erwiderte Ray und machte sich grinsend auf den Weg. So schnell konnte es gehen, eben noch Boss, jetzt Laufjunge. Er schüttelte den Kopf, ob Kiriko ihm absichtlich diesen Auftrag gegeben hatte, um ihn zu testen? Im Grunde war es dem Rotschopf aber auch egal, denn es machte ihm wirklich nichts aus die Sachen zu holen.
Was weder Ray noch der Kapitän vorausahnen konnte, war der Einfluss der beengte Verhältnisse unter Deck auf den Chuunin. Gut gelaunt stieg der Falkenjunge eine Ebene tiefer in den Bauch der MSS Triumpha. Hier herrschte trübes Dämmerlicht, welches durch die Ritzen im Holz fiel. Es roch nach Seewasser, Holz und auch ein bisschen moderig, was wohl ganz normal war für einen Segler dieser Größe. Neugierig schaute sich der Rotschopf um. An den Seiten hingen die Hängematten der Besatzung, ein schmaler Gang führte tiefer in die Eingeweiden des Seglers und überall standen diverse Kisten und Fässer, manche durch Seile und Tauwerk gesichert, andere so verkantet, dass sie trotz des sanften Schaukeln des Bootes sich nicht bewegten. Zugegeben war es relativ schummerig und fast schon ein wenig dunkel unter Deck, doch noch erkannten die scharfen Augen des Hayabusa alle notwendigen Details und ohne Probleme schlug er sich bis zum Heck des Schiffes durch. Im Bauch des Schiffes wurde es zwar deutlich, dass sie sich nicht mehr im Hafen befanden, aber wer ohne Probleme über Seile balancieren konnte, den brachte ein bisschen Seegang auch nicht aus dem Tritt. Schnell hatte er die gesuchte Kajüte gefunden und da sie sogar ein kleines Bullauge hatte, fiel genug Licht herein, sodass der Rotschopf die gesuchten Sachen fand. Doch in diesem Moment neigte sich das Schiff zur Seite und mit einem lauten Knallen schlug die Tür hinter dem Hayabusa zu. Schnell und mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend drückte Ray die Klinke und rüttelte an der Tür, doch sie bewegte sich keinen Millimeter. Blässe machte sich um die Nasengegend des Chuunins breit und ein weiteres mal, jetzt ein wenig wilder, rüttelte er an der Tür, doch diese schien sich ganz besonders verzogen zu haben und wollte sich einfach nicht öffnen lassen. //Scheiße, was soll das denn?// schoß es Ray durch den Kopf, Panik machte sich in ihm breit und verhinderte alle weiteren vernünftigen Gedanken. Er war allein in einer engen Kajüte, die Tür abgeschlossen und das Bullauge zu klein, als dass er hinausklettern konnte. In seiner Vorstellung begannen die Wände sich zu drehen und näher zu rücken. Der Rotschopf begann schneller zu atmen und rammte die Schulter gegen die Tür. Doch entweder war er zu schwach oder aber die Tür außerordentlich stabil, jedenfalls gab sie keinen Millimeter nach. Eigentlich war die Situation überhaupt nicht bedrohlich und wenn Ray nur ein wenig nachdenken würde, dann würde er realisieren, dass er die Tür einfach nur nach innen aufziehen musste, doch die Enge des Raumes und die aufkommende Panik verhinderten jeden klaren Gedanken. Wie ein Tiger im Käfig lief der Falkenjunge auf und ab und aus seinen schnellen Atemzügen ähnelten mehr und mehr einer Hyperventilation. Keine seiner Beruhingstechniken half, es war einfach zu eng, die Wände berührten ihn ja quasi schon. "Hilfe." schrie er panisch auf, doch entweder war er zu leise gewesen oder aber keiner hatte es gehört. Vielleicht hatte ein Teil von ihm es auch gar nicht darauf angelegt wirklich gehört werden zu wollen, denn immerhin war er hier der 'Boss', der Leiter, er durfte doch keine Schwäche zeigen, wenn das bekannt war, war er die Lachnummer des gesamten Schiffes. Logisch, dass diese Gedanken nicht wirklich zu seiner Beruhigung wirkten und wie ein aufgescheuchtes Huhn rannte Ray ein weiteres Mal gegen die Tür, nur um erneut abzuprallen. Im selben Moment schwankte das Schiff, sodass der geschickte Ray tatsächlich für einen Moment das Gleichgewicht verlor, zur Seite taumelte und mit dem Kopf gegen eines der Regal stieß. Eigentlich kein schwerer Schlag, aber in Kombination mit seinem gegenwärtigen Geisteszustand genug, um ihn tatsächlich ohnmächtig auf den Boden fallen zu lassen. Jetzt war nur noch die Frage, wann wohl die anderen darauf aufmerksam wurden, dass der Falkenjunge nicht wieder auftauchte.