Die Aktionen, die von dem Schattendoppelgänger durchgeführt wurden, waren offenbar fragwürdig. Dass Itoe irgendwann im Laufe der Mission das Gespräch suchen würde, war Junko klar gewesen. Aber sie verfügte nicht über das Wissen ihres Kage Bunshins und wusste daher in diesem Moment nicht so ganz genau, was ihre Späheinheit angestellt hatte und von was genau die Hyuuga da redete. Sie wusste nur eins: Es gab Plan A – M, und nicht jeder davon war schön, aber jeder einzelne von ihnen hatte zum Inhalt, dass Itoe mit ihren weißen Äuglein zusah. Es gab nur eine Sache, die Junko nicht bedacht hatte: Ihre eigenen Emotionen. Doch dazu später mehr.
Itoes Reaktion ließ auf Entsetzen und Abscheu schließen. Das bedeutete wiederum, dass der Plan mit dem Isolieren geklappt hatte – Hyuuga mochten keine hinterhältigen Attacken, soviel war deutlich. Junko hatte zwar nicht geahnt, dass das Ehrgefühl ihrer Zimmernachbarin so dermaßen hochgestochen war, aber ganz offensichtlich gab es da ein Problem. Dieses Problem musste aus der Welt geschafft werden, sonst konnte man vermutlich nicht vernünftig arbeiten. Darum folgte die Kunoichi ihrer Kollegin mit den weißen Augen auch recht gleichmütig und vor allem widerstandslos.
Die Bitterkeit, mit welcher die Hyuuga eine Erklärung verlangte, war allerdings dann doch überraschend. Junko stutzte merklich, während sie nachdenklich die Stirn runzelte und beschloss, hier mit der Teilwahrheit am besten zu fahren. Auch wenn das Byakugan ein berühmtes Bluterbe ihres Heimatdorfes war, so blieben ihr die Geheimnisse dieses Bluterbes immer noch verborgen. Vielleicht hatten die Hyuuga ja einen eingebauten Lügendetektor? Wer wusste das schon? Ein Grund mehr, vollkommen rational und vernünftig den eigenen Plan zu offenbaren.
„Iwamoto Yuto war ganz offensichtlich der Leiter dieses Spähtrupps. Ich habe ihn dir bereits als wechselhaft, naiv und gutgläubig beschrieben, was auf einen schwachen Willen hindeutet. Das wiederum macht ihn sehr anfällig für Genjutsu.“ Als erkläre sie gerade die Wichtigkeit von Tonmineralien für die Fruchtbarkeit des Ackerbodens, so erklärte sie gerade, warum man welche Attacke gegen welchen Gegner einsetzte. Ein derart manipulierendes Genjutsu befand sich tatsächlich in Junkos Repertoire und hätte theoretisch Yutos Reaktion (so wie sie sie vermutete) auslösen oder zumindest provozieren können. Sie log noch nicht einmal, wenn sie die Effektivität dieser Vorgehensweise schilderte – sie ließ nur den wichtigen Fakt aus, dass diese Form der gewaltsamen Manipulation bei Yuto nicht notwendig war.
„Ich nehme mal an, dass der Kage Bunshin zu drastischen Maßnahmen gegriffen hat, um die Katze rauszuhandeln.“ Drastische Maßnahme bedeutete in Junkos Kopf gerade: Vielleicht hatte der Bunshin sich an irgendeinen Arm gehängt und bezaubernd gelächelt. Wie gesagt, der Plan hatte wirklich so ausgesehen und Kopfmensch Junko hatte niemals nie nicht in Betracht gezogen, was wirklich geschehen war, ganz einfach, weil sie einen wichtigen Faktor nicht einkalkuliert hatte, nämlich ihre eigenen Gefühle. Aber kommen wir lieber zu dem Punkt, von dem Junko tatsächlich glaubte, dass die Hyuuga ihn anstößig finden würde.
„Ich nehme an, dass es nach Misserfolg von einigen Szenarien zur etwas blutigeren Variante gekommen ist. Zugegeben, das war nicht nett. Der Plan war, den Anführer zu isolieren, ihn auszuschalten und dann nach den verbleibenden Teammitgliedern zu suchen. Ich weiß, es ist wirklich nicht ehrenhaft, einem Gegner ein Messer in den Rücken zu rammen, wenn man die Information aus ihm herausgekitzelt hat. Natürlich, Ehre ist sehr wichtig für dich, aber du musst das Ganze von einem etwas praktischeren Standpunkt aus betrachten …“ Und jetzt durfte Itoe sich veräppelt vorkommen oder stutzen, weil Junko anscheinend wirklich an das glaubte, was sie sagte.
Wenigstens etwas, Junko versuchte sich zu erklären. Doch wie sie das tat, war nicht die beste Art und Weise. Erählte sie Itoe gerade wirklich, oder deutete sie zumindest an, Yuto mit einem Genjutsu manipuliert zu haben? Schwachsinn, würde die Hyuuga sagen, wenn sie sich festlegen musste. Wenn Junko es geschafft hatte, Yuto unter den Einfluss eines Genjutsus zu stecken, weshalb sollte sie ihn anschließend küssen, wieso sollte sie zärtlich sein? Itoe hatte keine Fingerzeichen gesehen. War es möglich, dass sie einen Moment unachtsam gewesen war? Aber das alles würde die Handlungen von Junko nicht erklären – versuchte sich die Chuunin etwa so zu rechtfertigen? Oder war das...
Itoe überprüfte die Lichtung des Geschehens ein weiteres Mal, nur um den Bunshin heil und unversehrt wiederzufinden. Besser noch, er hatte den falschen Kibo ins Ziel genommen und hämmerte mit Wasserkugeln nur so drauf. Die Elementaffinität, die dahinter jedoch steckte, zog uninterpretiert an Itoe vorüber.
Ergo: Junko wusste noch gar nicht, was dort geschehen war. Das war ein Problem, ein großes Problem. Denn zum einen warf es die Frage auf, warum zum Teufel sich Itoe so merkwürdig benahm. Zweitens verhinderte es jegliche wahrheitsgetreue und logische Erklärung seitens Junko. Die beiden Doppelgänger lieferten sich in den nächsten Momenten noch einen kleinen Kampf, eher der Blutbunshin in seine Einzelteile zerlegt wurde.
Drastische Maßnahmen, ja, das stimmte. Aber um die Katze herauszuholen? Die war doch schon längst frei, noch vor der ersten Berührung. Nein, Itoe war mit diesen halbherzigen, vorweg gegriffenen Plänen in keinster Weise zufrieden. Nur mit einem hatte Junko Recht, und das war das Ende. Aber dachte die Chuunin wirklich, das wäre Itoes Problem? Tickte die noch ganz richtig? Innerlich schüttelte das Mädchen heftig den Kopf – nur um zu merken, dass sie dies wirklich tat.
„Lös deinen Bunshin auf, er hat seine Arbeit offenbar getan.“ Und nun waren wir... wo? Genau, wieder am Anfang, bei Itoes erster Frage. Fast hätte sie sogar bei Junkos letzten Worten losgelacht.
Gute Güte, was immer Itoe auch gesehen hatte, es musste sie arg mitnehmen. Junko stand ein wenig auf dem Schlauch, was das sein könnte – denn sie traute ihrem eigenen Schattendoppelgänger nicht wirklich zu, vom Plan abgewichen zu sein. Also was war geschehen, was Itoe so wütend machte? Hatte der Kagebunshin etwa Kibo ernsthaft verletzt oder gar zerlegt, und die Hyuuga war wütend, nunmehr eines würdigen Gegners beraubt worden zu sein? Möglich wars.
Für einen Augenblick hob die Konoha-Chuunin zweifelnd eine Augenbraue. Sie hatte noch vor, diesen Kage Bunshin zu benutzen, um die Gegend von Blutwürmern zu säubern, mal ganz davon abgesehen, dass es tierisch lästig war, dass die Dinger dermaßen viel Chakra verbrauchten und wenig zurückgaben. Insofern konnte man das Zögern der Kunoichi schon verstehen, jedoch war ihr der Umgang mit Itoe auch wichtig. Ihre Nachbarin wirkte viel zu ernst, als dass die Angelegenheit mit einem einfachen „Nein, ich löse ihn später auf“ beendet werden konnte. Gleichwohl schien Itoe nicht wirklich gewillt oder in der Lage, die Angelegenheit in Worte zu fassen. Somit musste Junko auf das Wort ihrer favorisierten Späherin vertrauen und annehmen, dass der Schattendoppelgänger wirklich mit seiner Arbeit fertig war.
Die Tatsache, dass Junko dieser Verlauf und die Aufgabe eines geringfügigen taktischen Vorteils nicht gefiel, wurde durch ein leicht abfälliges Schnauben deutlich – und dennoch tat sie Itoe den Gefallen. Kurz schloss die Kunoichi die Augen und konzentrierte sich auf die Auflösung.
Sie war nicht vorbereitet auf das, was sie zurückerhielt.
Es sei noch einmal betont, dass die Chuunin grundsätzlich Emotionen unterdrückte und mal ganz davon abgesehen sowieso dazu neigte, diese beiseite zu schieben und für alles nur eine bestimmtes Maß am Tag zur Verfügung zu haben. Von daher war dieser ganze Schwall, dieses Meer von Gefühl und Zweifel, ebenso wie die Informationen, die sie enthielt, einfach ein wenig viel auf einmal, und mit anderen Worten genug, um mit schreckgeweiteten Augen ein paar Schritte zurückzutaumeln. Fast wäre sie hingefallen, fing sich aber im letzten Moment und stützte sich an einem Baum ab, während sie versuchte, diese Emotionsflut unter Kontrolle zu bekommen. Kein Wunder, dass Itoe nach einer Erklärung verlangte, das hätte sie auch getan. Sie hasste es, wenn Pläne schiefgingen. Was zur Hölle war in diesen Kagebunshin gefahren?!?
„Ewww …“ Die Igitt-Reaktion bezog sich von Junkos Aussage aus ehrlich gesagt eher auf die Tatsache, dass sie mit der gesamten Situation für den Moment nicht zurechtkam … Itoe konnte dies aber durchaus als „Igitt, Sora-Nin“ auffassen. Vielleicht wäre ein Pfefferminzbonbon angebracht, hm? Scheinbar brauchte die Chuunin immer noch einen Moment, um sich zu sammeln.
Itoe ignorierte Junkos Schnauben. Sie würde den Bunshin auflösen und Beweggründe oder Kontrapunkte interessierten die Hyuuga gerade herzlich wenig. Sie wollte Antworten, davor ging es erst einmal nicht weiter und das wusste Junko mit Sicherheit. Itoe führte diese Gruppe und ohne das Mädchen mit den weißen Augen wäre die Kacke mit Sicherheit bald am Dampfen.
Auf die Reaktion, die auf das kurze Schließen der Augen folgte, war Itoe jedoch nicht vorbereitet. Junko war ganz offensichtlich sprachlos, erstaunt und allgemein vollkommen perplex. Man musste kein Genie sein um zu erkennen, dass dort drüben gar nichts nach Plan gelaufen war. Aufgerissene Augen, torkelnde Schritte. Die Furche auf Itoes Stirn wurde größer. Normalerweise wäre das der Moment gewesen, an dem eine helfende Hand Junko gestützt hätte. Aber hier und jetzt? Nichts da. Mit unterbewusster Genugtuung besah sie das Entsetzen auf dem Gesicht der Chuunin. Erst ein wenig spät dachte sie daran, diese Mimik zu deuten um einer Antwort etwas näher zu kommen.
Klar war, dass das, was der Doppelgänger angestellt hatte, nicht im geringsten irgend einem Plan entsprach. Die Panik – so deutete Itoe nämlich Junkos Gestik – lies auf viele Dinge schließen, wäre da nicht ein Problem: Bei einem Kagebunshin schuf man nichts neues im eigentlichen Sinne. Keine neue Persönlichkeit, keine neue Seele sonder ein Abbild seiner selbst. Das würde dann bedeuten, dass sich die echte Junko in dieser Situation genauso verhalten hätte, wie ihr Doppelgänger – war das letztendlich der Grund für Junkos Panik? Dass sie zu so etwas fähig war? Oder war es dann doch der Schrecken eines Mädchens, die bei etwas verbotenem überrascht und erwischt worden war?
Egal wie man es drehte und wendete, Mameha Junko saß in irgend einer Form in der Patsche, vor allem emotional, hatte es den Anschein. Da war der kalte, zornige Blick Itoes nicht sonderlich hilfreich. Die Hyuuga wartete nämlich nach wie vor auf eine Erklärung und ein wenig Scham und Zweifel seitens Junko würde daran rein gar nichts ändern.
„Gibt es überhaupt eine Erklärung?“, fragte Itoe und sprach damit eine Angst aus, die sie bisher selbst nicht wahrgenommen hatte. Was war, wenn Junko zu ihren Taten stand, wenn es keine Erklärung gab? Was musste Itoe dann tun? Sie dachte besser gar nicht darüber nach, denn daran würde ihr Kopf zerbrechen.
„Einen Augenblick …“ Noch einmal tief durchatmen, und dann musste sie sich aufrichten und der Situation und vor allem einer Hyuuga im Ave-Justitia-Modus stellen. Schöne und unschöne Erfahrungen, die da wiederkamen, mussten erst einmal verarbeitet werden. Aber dafür hatte sie Himmel noch eins keine Zeit! Sie musste die Verarbeitung auf später verschieben, viel später, wenn sie eine Badewanne und ganz viel Seife für sich hatte, um sich selbst sauber zu schrubben. Zuletzt sammelte sich die Kunoichi wieder, straffte die Schultern und versuchte, dem wütenden Blick der Hyuuga stand zu halten. Der Ausdruck Junkos war am besten mit verwirrt zu beschreiben – besorgt war sie auch, aber das nur nebenbei. Sie fragte sie in diesem Moment auch ernsthaft, ob Yuto auch in Ordnung war – die von ihr zugefügte Wunde war tief gewesen und hatte ziemlich stark geblutet, andererseits war sie kein Medic und kannte sich mit so etwas nicht aus. Wiederum andererseits hatte sie Kibos Blutbunshin an dem Kiri-Nin herumhantieren sehen, also standen die Chancen gut. Jetzt brauchte sie nur noch eine passende Erklärung für Itoe und nicht zu vergessen für sich selbst.
„Eines muss ich von Anfang an festhalten: Ich wusste, dass du zuschaust. Wenn es jemals eine Wahrheit gab, die ich ausgesprochen habe, dann ist es diese: Ich wusste, dass du zuschaust.“ Trotz Verwirrung auf jeder Ebene, die sich Junko nur vorstellen konnte war es ihr wichtig, diesen Fakt noch einmal zu betonen. Was auch immer sich für eine Erklärung ergeben würde, dieses eine veränderte sich nicht. Sie wusste, dass Itoe mitspähte, ganz einfach, weil sie die Hyuuga höchstpersönlich dahingehend angewiesen hatte. Das leuchtete vielleicht sogar einer wütenden Itoe ein, dass es sich hierbei um die Wahrheit handeln musste. Dann war aber die Tatsache, dass ein Kage Bunshin wirklich nur ein Teil des Originals darstellte. Junko hätte nie gedacht, dass ihre „Gäste“, wie sie sie nannte, jemals zu einem solchen Problem werden würden, aber wer hätte gedacht, dass ausgerechnet der vergnügungssüchtige, emotionale Psychopath in Gestalt eines Schattendoppelgängers Probleme bereiten würde. Diesem kleinen inneren Psychopathen waren äußere Einflüsse häufig egal, insofern machte das Sinn. Die Chuunin fragte sich einen Augenblick, ob sie, falls sie persönlich dort gewesen wäre, nicht ebenso reagiert hätte. Die Antwort war ein klares und deutliches Nein. Sie hätte sich niemals so gehen lassen, nicht, wenn sie wusste, dass es möglicherweise Zeugen geben konnte. Aber wie erklärte sie Itoe jetzt, dass sie glaubte, dass ihr inneres Zerwürfnis daran Schuld war, dass ein Teil ihrer Persönlichkeit so agierte, wie er eben agiert hatte? Dann war da auch die Tatsache, dass es ein Aspekt der Persönlichkeit war, also möglicherweise der Teil, der das tat, was er wollte. Verwirrend. Höchst verwirrend. War sie denn verrückt? Ab heute war das amtlich, nicht wahr?
„Ich … ich glaube, ich wollte ihn einfach … zappeln lassen. Ködern, versprechen und dann doch …“ Abmurksen, wollte sie sagen, aber selbst das hatte sie ja nicht getan. Wenn Junko ehrlich mit sich selbst war, dann war sie einfach nicht in der Lage gewesen, Yuto die Kehle durchzuschneiden, ganz egal, ob sie nun höchstpersönlich oder in Form eines Schattendoppelgängers da gewesen wäre.
Das musste sich dringend ändern. So konnte das nicht weitergehen. So lange Yuto lebte, lebte diese Schande und diese Schwäche, diese Verwirrung und vor allem die Problematik mit der wütenden Hyuuga.
„Ich wusste gar nicht, dass so was in mir steckt.“ Der Kommentar war eher für sie selbst und wurde auch eher mit nachdenklicher Miene ausgesprochen. Die Wahrheit war, dass Junko sich selbst negativ überrascht hatte.
„Böses Sicherheitsrisiko.“, merkte sie weiterhin mehr für sich selbst an und suchte nach einer Erklärung für den Faux-pas. „Ich bin seit meiner Geninprüfung beinahe dauerhaft im Einsatz. Kaum Freizeit. Viel Stress.“ Ja, das konnten durchaus Faktoren sein, die zu einem Bruch oder zu solch einem Fehlverhalten führen konnten. Hyuuga Itoe durfte gerade zusehen, wie Junko rational nach einer Erklärung suchte, aber immer wieder verwirrt den Kopf schüttelte. Allerdings war gerade die Angelegenheit mit dem Dauerstress, unter den sich Junko in erster Linie selbst setzte, durchaus nicht zu verachten. Vielleicht brach sie ja langsam zusammen? Das wäre irgendwie … ungut. Und es erklärte nicht wirklich, warum sie einen erklärten Feind der eigenen Fraktion küsste.
Einen Augenblick? Das war Itoe egal, sollte es für die Warterei dann auch eine Erklärung geben. Dies war nach wie vor der Punkt: Itoe hoffte insgeheim auf eine Erklärung, die sie auch glauben konnte. Sie wollte einfach nicht mitten im nirgendwo entscheiden müssen, was sie mit einer Verräterin anstellen würde, einer Bekannten, Nachbarin, womöglich entfernten Freundin. Konnte man das verstehen? Mit Sicherheit, denn so wütend und aufgebracht Itoe auch war, sie war nach wie vor ein Mädchen von vierzehn Jahren, ein Mensch, der sich nach Harmonie sehnte – irgendwo, ganz tief unten. Primär zu spüren und zu sehen war jedoch nach wie vor das mangelnde Verständnis für Junko, die Fragen, die sie sich stellte. So verwirrt die Chuunin auch war, Itoe stand ihr in dieser Hinsicht vermutlich nicht (um großes Maß) nach, auch wenn die beiden Fälle vollkommen verschieden waren.
Die Hyuuga spürte, dass Junko immer mehr in der Klemme steckte. Wieso legte diese solch einen Wert darauf, dass Itoe glaubte, die ganze Zeit mit eingeplant gewesen zu sein? Genauer betrachtet verriet Junko sogar, dass sie zuvor gelogen hatte. Oder? Und weshalb tat sie so etwas, wenn sie wusste, dass Itoe zusah? Ergab das auch nur den Hauch von Logik? Itoe suchte vergeblich. Was konnte Junko für einen Anreiz haben, beim Küssen des Feindes beobachtet zu werden? Ein Blick auf die Chuunin beantwortete zumindest diese Frage: Gar keinen. Aber warum... es machte keinen Sinn. Die Unsicherheit, die in Junko herrschte, breitete sich auf das Bild der gesamten Situation aus.
Doch es muss erneut betont werden, dass für Itoe gerade Antworten zählten. Diese würde sie vielleicht eher bekommen, wenn sie Verständnis zeigte und auf Junko einging, aber soweit war Itoe nicht. Sie war zornig und enttäuscht.
Verdammt nochmal, Junko hatte Yuto geküsst, von sich aus! Man muss bedenken, dass Itoe ihr ganzes Leben lang eingeredet wurde, welche Verbrechen Soragakure begangen hatte, dass sie böse und verachtenswert waren. Deshalb konnte sich das Mädchen auch keinerlei Reim auf Junkos Verhalten machen. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, wenn Itoe selbst schon einmal verliebt gewesen wäre, was jedoch nicht der Fall war.
Es stellte sich die Frage: Wie würde dieses Gespräch enden?
Die gestammelten Versuche Junkos, eine Rechtfertigung zu finden, sie waren beinahe bemitleidenswert. Dass diese es tatsächlich wagte, solch ein Verhalten auf Stress zurückzuführen – in einer anderen Situation hätte Itoe gelacht.
Die Hyuuga blickte das Mädchen vor ihr durchdringend an. Bisher hatte sie genau das gefragt, was ihr in den Kopf kam – und so wurde auch weiter gemacht.
„Du wusstest, dass ich zusehe und hast ihn trotzdem geküsst.“ War Junko komplett masochistisch veranlagt? Es wurde übrigens mit Absicht keine Unterscheidung zwischen dem Mädchen selbst und seinem Doppelgänger gemacht, da dies für Itoe ein und derselbe Verstand war. Die folgende Frage war, da nahm sich die Hyuuga mal ein Beispiel an Junko, eher für sich selbst, beziehungsweise für den Raum an sich gestellt.
„Was hast du getan?“
Was sie getan hatte? Was konnte man tun? War die Beschreibung einer Handlung durch das Wort „tun“ nicht ein wenig unelegant und entweihte selbst die bravsten Handlungen? Himmel, was geschah hier gerade und warum hatte Junko keine Erklärung? Sie hatte immer Erklärungen, sie blieb immer ruhig, sie hatte immer den Überblick. Sie manipulierte andere Menschen dazu, sich gegenseitig anzugreifen und wartete, bis andere Leute die Arbeiten für sie erledigten. Sie schob Menschen auf einem Schachbrett herum und verfügte über einen kühlen, scharfen Verstand. Wieso war sie jetzt nicht in der Lage, eine vernünftige und glaubwürdige Lüge auszuspucken? In diesem Moment bröckelte die Maske der Kunoichi und es kam das zum Vorschein, was die Chuunin unter all dem Pflichtbewusstsein, der Professionalität, dem Intellekt und der Disziplin auch war, auch wenn sie es nicht zugeben wollte: Ein sechszehnjähriges Mädchen ohne nennenswerte romantische Erfahrung. Naja, bis auf die Katastrophe, die sie gerade arg in Bedrängnis brachte.
„I-i-ich … ich weiß es nicht!“ Moment mal, hatte sie gerade gestottert? Jetzt war die Kunoichi wirklich mit ihrem Latein am Ende, was?
Nicht weinen.
Aber …
Nicht weinen.
Mach ich nicht, aber …
Nicht weinen.
Manchmal war das Leben doch ungerecht, oder?
„Was zum...“Itoe traute so langsam ihren Augen nicht mehr.
Junko. Taktikerin, Teamleiterin. Während dem Examen hatte sie ohne mit der Wimper zu zucken ihre Freunde niedergeschlagen. Sie hatte vollkommen pflichtbewusst und kaltherzig Befehle ausgeführt. War dies hier dieselbe Person? Ein zerrüttetes Mädchen, den Tränen nahe und um Fassung ringend? Verdammt, sogar ihre Schultern hatten angefangen zu beben. Wo war die Junko aus dem Examen geblieben? Die, die man in solch einer Situation brauchte!
Und was machte Itoe? Diese kniete, so langsam selbst ziemlich aufgelöst, auf ihrer Position und stierte ins Leere.
Manch einer mochte dieses Gefühl kennen, wenn sich plötzlich ein Schalter umlegte und man die Welt in einem anderen Licht sah. Teilweise wurde so etwas eine kleine Form der Erleuchtung genannt. Itoe sah das anders. Alles was sie plötzlich sah, waren zwei junge Mädchen, beide aus verschiedenen Gründen am Zweifeln. Junko hatte es doch tatsächlich geschafft, dass Itoe für kurze Zeit über sich selbst nachdachte. Waren Fehler erlaubt? Glich Junkos Verhalten einer Todsünde?
In Itoes Kopf gab vieles keinen Sinn mehr und auch sie bemühte sich um Fassung – jedoch in anderer Form. Die Hyuuga versuchte ihre Ansichten in einer Fassung zu halten. Ansichten, mit denen sie bisher immer erfolgreich, vernünftig und verlässlich war. Was schrieb das Lehrbuch? Junko war eine Verräterin des Dorfes, wenn Itoe mit ihren Vermutungen Recht hatte.
Itoe sah die Chuunin an. Was sah sie? Eine Verräterin, die mit dem Tode bestraft werden sollte? Oder ein aufgelöstes Mädchen, dass von sich selbst überrascht nicht mehr weiter wusste?
Woher zum Teufel sollte die Hyuuga wissen, wie man sich in solch einer Situation verhielt, wer bitte erzählte einem so etwas, wer bereitete einen darauf vor?!
Überrascht stockte das Mädchen. Wo war ihr Zorn, ihre Wut? Itoe erinnerte sich an das Bild, wie sich die Lippen der beiden trafen. Sie versuchte sich wieder ins Gedächtnis zu rufen, wie sie gefühlt hatte. Ein Blick zu Junko machte alles zunichte. Itoe brauchte diese Wut gerade, sie musste sich aufregen! Ein aufgelöstest Stottern und sie wurde Weich? Nein, das konnte einfach nicht wahr sein. Die Hyuuga biss sich kräftig auf die Lippe, ein wenig zu kräftig, denn sie schmeckte Blut.
Jetzt musste sie selbst sich dazu zwingen, ruhiger zu atmen. Für Junko war es zu viel? Für Itoe gerade auch. Pflichtbewusstsein biss sich mit dem Wunsch nach Treue und Freundschaft, Weltanschauungen traten die Realität mit Füßen. War sie etwa genauso hilflos wie die Chuunin, nur in anderer Art und Weise? Für genau solche Gedanken hasste sich Itoe manchmal. Sie musste, wollte stark sein. Aber wie konnte sie das schaffen, wenn sie schon hier kurz vor dem Aufgeben war?
Es half nichts, das wusste Itoe. Sich noch weiter mit den eigenen Gedanken rumzuschlagen würde alles nur noch schlimmer machen.
Aber eines hatte sich nach wie vor nicht geändert – Itoe wollte verstehen. Sie würde nicht einfach weitermachen können als sei nichts geschehen, auch wenn dies hier ganz bestimmt nicht der passende Ort samt Zeit war. Was für ein Glück, dass Hiroshi und Kayros, welcher durch Windlinien glücklicherweise nichts erfahren konnte, in Genügend Entfernung waren.
Es war doch merkwürdig was so geschah, wenn man einfach nur ein paar Shinobi des Feindes jagte.
Was konnte Itoe tun um ihre Antworten zu erhalten, die sie so dringend brauchte um weitermachen zu können? Was konnte sie fragen? Sie wusste, dass Junko auf etwas wie „Warum hast du ihn geküsst?“ nur wieder mit einem gestotterten „Ich weiß es nicht“ antworten würde.
Als die Hyuuga sprach war ihre Stimme etwas ruhiger und friedvoller als zuvor. Man musste schon ein echt kaltes Miststück sein, um in dieser Situation nicht den Hauch von Gefühl zu zeigen.
„Erzähl es mir einfach.“, sagte das Mädchen – vielleicht sogar etwas resigniert? Hatte sie sich damit abgefunden, dass dies hier in jeder Hinsicht für den Arsch war und kaum mehr besser werden konnte? Womöglich. Wie würde sie damit umgehen? Keine Ahnung. Und was waren ihre Befürchtungen? Die Wahrheit.
Die Wahrheit? Was für eine Wahrheit? Junko lebte von Illusionen und Disziplin, lebte davon, die Wahrheit von anderen Leuten zu definieren, und jetzt wollte Itoe noch eine? Es gab manchmal Punkte im Leben, da half nichts mehr weiter, und diesen Punkt hatte die Chuunin gerade erreicht. Der Punkt, in dem alles, was an Mist im Leben passierte ungebremst auf einen hinabplätscherte und sich auch durch nichts und niemanden aufhalten ließ. Und wer hatte das alles in die Wege geleitet? Glückwunsch, Itoe, du hast Junko kaputtgemacht … und von der hieß es, sie sei unkaputtbar.
Es war lange her, dass Junko geweint hatte, so lange, dass sie sich ehrlich gesagt spontan nicht daran erinnern konnte. Umso überraschter war sie, als sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten, ihre Schultern bebten und sie sich selbst schniefen hörte, während sie spürte, wie sie wie von einer unsichtbaren Last erdrückt auf die Knie sank. Und warum? Sie konnte es sich selbst nicht erklären, sie wusste nur, dass sie diesen verflixt schmerzhaften Kloß im Hals schnell loswerden musste, bevor sie noch endgültig anfing, zu weinen.
Und was wollte Itoe? Wahrheit? Es gab keine Wahrheit! Wahre Kriegskunst war Täuschung. Kein Wunder, dass Junko mittlerweile mittelmäßig verzweifelt wirkte.
„A-a-aber das ist nicht r-r-richtig. Ich kann das nicht machen, verstehst du das denn nicht?“ Da war er, der komplette Bruch. Nun zufrieden, Itoe? Und dann folgte auch noch ein wahrer Redeschwall.
„Wenn ich die alles erzähle, verliere ich die Kontrolle, und weißt du, was passiert, wenn ich die Kontrolle verliere? An Ryoichi ist ein hervorragender Samurai verloren gegangen, so furchtbar moralisch und anständig, wie er ist, Kayros läuft mit großen blauen Hundeaugen durch die Welt und glaubt, er müsse niemals irgendwem auch nur ansatzweise Schaden zufügen und Hiroshi, Hiroshi ist der allerschlimmste von allen! Er ist nicht glücklich, wenn er nicht sportkritisieren kann, während Karura nur ihre Kräfte messen will, Kin Käfer auf alles feuert, was farblich nicht zu ihrem Lippenstift passt und der Suna, dessen Name mir gerade nicht einfällt nur Kekse haben will. Und du, du mit deinen kostbaren Hyuuga-Moralvorstellungen … du klimperst ein paar Mal mit den Wimpern und schaust den gefährlichen Blutsauger mit großen weißen Augen an, ohne dir darüber Gedanken zu machen, was genau er dir antun kann. Wenn ich nicht den Überblick und die Kontrolle behalte und euch nicht vor euch selbst beschütze, sterben Menschen. Himmel, es sterben Menschen, hörst du mich?“ Der Zusammenhang war nicht klar erkenntlich, aber gerade in einem solchen Moment sollte man keine strukturierten Antworten erwarten, nicht wahr? Das war der Preis dafür, wenn man sich nicht die Zeit nahm, das Trauma von toten Teamkameraden aus der ersten Mission zu verarbeiten. Junko versuchte noch einmal, durch vorsichtiges Augenreiben Tränen vom Fließen abzuhalten, was sie aber nicht in ihrem Redeschwall unterbrach.
„Sie erscheinen verletzt zur Mission, sie laufen mit offenen Augen in Fallen und sie schwören dem Feind ewige Freundschaft und wundern sich, wenn sie einen Feuerball um die Ohren bekommen. Ich übernehme das Denken, sie übernehmen das Handeln und alles kehrt einigermaßen unversehrt wieder nach Hause zurück, so einfach ist das. Ich leiste gute Arbeit. Ich habe jede Mission unter meiner Leitung abgeschlossen, und gut abgeschlossen. Ich opfere meine Zeit, mein Leben, ja sogar den letzten Rest meiner Moral für den Dienst, selbst wenn ich dabei …“ Ein kurzes Stocken, und schon ging es weiter. „Ich diene Shirogakure gut … und wie belohnt es Shirogakure? Sie senden mir eine misstrauische Halbzeit-mehr-Sängerin-als-Chuunin, die nichts Besseres zu tun hat, als mich zu bespitzeln! Was soll ich denn davon halten?“
Naja, so konnte man das durchaus sehen, obwohl Junko zuvor rationalisiert hatte, dass Niyaze nur in Eigenregie aus Neugier gehandelt hatte. Aber jetzt gerade war nichts mit Wegrationalisieren. Vielleicht, so konnte man aus diesem Artikulationsschwall schließen, war die Kussaktion ja auf eine Trotzreaktion zurückzuführen, denn immerhin war die Katze noch in Hörreichweite gewesen.
„Man misstraut mir trotz guter Ergebnisse, mir gefriert das Spülwasser und ich weiß nicht wieso und dann sind da auch noch irgendwelche Sora-Nin. Ich vermute, dass man uns alle manipuliert, was aber nichts an der Tatsache ändert, dass er der Todfeind ist. Jungs sind Luxusprobleme, also Probleme, die ich nicht habe. Mein größtes Problem ist, euch am Leben zu erhalten, und das habe ich auch vor. Aber das kann ich nur, wenn ich nicht gerade so ein elendes Häuflein Elend bin.“ Wie jetzt zum Beispiel. Sie sah wirklich ein bisschen elend aus und war noch nicht einmal auf den richtigen, wahren Kern des Problems gestoßen. Sie hatte nur die Problematik allgemein angekratzt … und davon hatte sie schon zuviel gesagt. Das war übrigens auch ein Moment der Klarheit, in dem Junko ihren Kopf hob und der Hyuuga ernst und direkt in die weißen Augen blickte.
„Du … du weißt überhaupt nicht, wovon ich spreche, oder?“
Es war nicht richtig? Itoe sah das zerbröckelnde Mädchen vor ihr an. Was hatte sie selbst getan? Aus einer fähigen Teamleiterin ein Häufchen Elend gemacht. Halt, fühlte sich Itoe schuldig? Junko war diejenige, die sich falsch verhalten hatte!, redete sich Itoe ein. Immer und immer wieder.
Diese Situation war... merkwürdig. Wie sich die Gefühle von Junko und Itoe gewandelt hatten, so schnell, so drastisch – die eine zog die andere runter und stieß sich selbst ins Loch. Grauenhaft, oder? Wer kam überhaupt auf die Idee, Kinder mit Leben spielen zu lassen. Das war einfach nicht richtig.
Nun, die Hyuuga hörte zu. Sie schwieg still, schaute zu Boden und fühlte wie ihr Mund immer trockener und ihr Kopf wärmer wurde. Man musste kein Genie sein um aus den Worten Junkos die richtigen Schlüsse zu ziehen. Sie wollte für alles die Kontrolle übernehmen, häufte sich viel zu viel an und wurde von der Last erdrückt, auch wenn man es ihr nicht ansah. Meine Damen und Herren, dieses hilflose Mädchen wurde vor einiger Zeit von Itoe zu einem Vorbild erklärt.
Aber war hier überhaupt irgend etwas … falsch? Junko brach zusammen und versuchte ganz offensichtlich durch ihre Worte genau diese Kontrolle wiederzugewinnen, die sie zu verlieren drohte. Sie musste wohl selbst hören, was sie sagte, damit sie es auch glauben konnte. Gleichzeitig redete sie sich allen Frust von der Seele – ein klassischer Fall von „zu viel“. Itoe selbst hatte schon so Momente gehabt, vermutlich jeder.
Zwischen den Erzählungen Junkos waren immer kleine Pausen, die Itoe nutzte um das Gehörte irgendwie in ein Bild zu setzen. Am Anfang war sie nur wütend gewesen, jetzt versuchte sie die Probleme Junkos zu verstehen, wie konnte es nur dazu kommen?
Das Gehörte löste so viele Gedanken aus, aber keiner davon konnte zuende gebracht werden, da bereits der nächste seinen Platz einnahm. Ob Itoe wusste, dass Junko gerade Ängste und Erfahrungen in Form von Worten versuchte zu verarbeiten? Ja, tat sie. Aber wusste sie auch, wovon genau Junko sprach? Nun, sie konnte es nur erahnen. Als sich seit langem die Augen der beiden Mädchen wieder trafen wusste Itoe erst einmal nicht, was sie sagen sollte.
„Ich weiß es nicht.“ Klang Itoe etwa... traurig? Nein, das konnte unmöglich sein. „Ich denke...“ Seufzend versiegte die Stimme.
„Du bist eine von uns, weißt du das? Ryo ist zu nett für diese Welt und ich schaue der Gefahr interessiert ins Gesicht, während du mit ihr intim wirst. Du bist eine von uns, Junko.“Ein kurzes Schweigen. „Du musst nicht auf uns aufpassen, du gehst doch daran kaputt. Sieh dich nur einmal an.“
Nun, Itoe wusste nicht, was sie sagen sollte. Alles was sie gerade empfand waren unausdrückbare Gefühle. Sie musste sich einen Moment sammeln und konzentrieren. Wohin führte das? Wohin sollte es führen? Was sollte sie tun? Wie waren ihre Gefühle bezüglich Junko im Moment? Was dachte sie über die Mission? Hatte sie selbst womöglich alles versaut? Es waren mal wieder viel zu viele Fragen. Hatte sie Junko verziehen? Komischerweise war die Ratlosigkeit, die auf die letzte Frage folgte, von anderer Natur als sonst. Vermutlich war die Antwort ein klares „Nein“, aber trotzdem, wenn Itoe an dieses „Nein“ dachte, da war etwas anders. Allerdings konnte sie es nicht definieren.
Itoe besah sich die Baumkronen. Auch wenn sie nicht sonderlich viel über Junko erfahren hatte, so wusste sie nun doch einiges über die Chuunin, zumindest hatte die Hyuuga das Gefühl, sie ein wenig besser zu kennen. Auf eine sehr komplizierte Art und Weise, die noch sehr viel Aussprache benötigen würde, ehe da auch nur ansatzweise etwas geklärt wäre. Aber im Moment hatte Itoe ein Gefühl, mit dem sie leben konnte – warum? Weil Itoe glaubte, dass Junko ehrlich zu ihr war.
Keine Frage, Itoe würde die arme Chuunin nicht einfach so in Ruhe lassen. Die Sache mit dem Kuss war noch nicht aus der Welt, aber vorerst... waren sie an einem Punkt angekommen, der akzeptabel war – für den Moment. Wäre da nicht eine Charaktereigenschaft namens „Neugierde“ gewesen...
Die Hyuuga erhob sich plötzlich und... streckte Junko eine Hand hin?
„Du bürdest dir viel zu viel Last auf. Hin und wieder darfst du ruhig eine helfende Hand annehmen.“ Da stand Itoe also und hielt der Person, die sie vor einigen Minuten am liebsten attackiert hatte, eine Hand hin. Verkehrte, komische Welt, hm?
„Nur weil du jemandem etwas anvertraust, heißt das noch lange nicht, dass du die Kontrolle verlierst.“ Eine letzte Aufforderung, doch noch zu reden? Der Wunsch nach einer Antwort auf die erste Frage, die im Verlauf dieses Gesprächs gestellt wurde? Ja, genau das.
„Ich finde nach wie vor, dass du mir diese Antwort schuldest. Was läuft da zwischen dir und Yuto?“
Itoe hatte ja Recht. Mit jedem einzelnen Wort hatte sie Recht, auch wenn Junko Schwierigkeiten hatte, diesen Fakt in seiner ganzen grässlichen Herrlichkeit zu akzeptieren. Aber machte das die Situation gerade besser? Nun, geringfügig. Es spendete zumindest Trost und entlastete kurzzeitig, wenn man mal ganz davon absah, dass das gesamte Gespräch gerade eine Wendung genommen hatte, die von einer wütenden Itoe befreite – zumindest vorerst. Somit ließ sich die Chuunin aufhelfen und straffte erneut die Schultern, während sie mit Erleichterung feststellte, dass sich der schmerzhafte Kloß im Hals langsam löste. Sie versuchte sich probeweise an einem Lächeln, scheiterte aber kläglich, was nicht zuletzt an der letzten, ziemlich direkten Nachfrage lag. Ob sie eine Antwort schuldig war? Oh ja. Aber jetzt hatte sie sich wieder so weit gefangen, dass nicht einfach die ganze, grausame Wahrheit hervorsprudelte. Jetzt konnte sie wieder vorsichtiger sein und die Wahrheit ein wenig dehnen.
„Was da läuft? Keine Ahnung. Schwer zu sagen.“ Keine Einwände hier, diese Beziehung zu definieren war ein Ding der Unmöglichkeit. Gab es eine kurze Version?
„Erst wollte ich ihn töten, dann wollte ich nur beobachten und lernen, dann wollte ich ihn wieder töten und plötzlich schaut er mich mit diesen großen Augen voller bedingungsloser Bewunderung an und dann … ehrlich, ich weiß nicht, was passiert ist oder was über mich gekommen ist.“ Die Stimme gewann wieder an alter Stärke, an alter Trockenheit zurück, während sie grob umriss, was sie zu offenbaren bereit war. Dass klang nach einer einmaligen Schwäche (wie Junko für sich selbst immer wieder rationalisierte), und redete damit effektiv Yuto aus dem Schneider, wenn man der vorangegangenen Genjutsuaussage Glauben schenken durfte, was nicht allzu unwahrscheinlich war. Auch gab sie nicht preis, ob sie mehr als hinsichtlich des Chuuninexamens mit ihm zusammengearbeitet hatte, sie schilderte lediglich eine gewisse Grundfaszination, die einmalig über die Stränge geschlagen war. Auf einer S-Rang-Mission. Niemand war perfekt, nicht einmal Junko, nicht wahr?
„Naja … wenigstens sind ich und mein Kunai echte Herzensbrecher, was?“ Galgenhumor der tiefschwarzen Sorte, wenn man bedachte, dass sie dem armen Jungen ihr Kunai mit Schmackes in den Rücken gerammt hatte.
Das gute an der Geschichte war: Sie war vorerst gelaufen. Vorerst, dieses Wort war wichtig, also merken. Itoes Anfall von Zorn und Wut war ebenfalls für den Moment vorüber und würde ganz so bald vermutlich nicht mehr kommen. Geklärt war hier aber nichts und Itoe hatte schon längst ein Memo aufgesetzt, das besagte, Junko bei nächster entspannter Gelegenheit im Dorf gehörig unter die Lupe zu nehmen. Einfach so das Pflichtbewusstsein ausschalten ging nun einmal nicht, die Mission hatte jedoch Vorrang, das hatte die Hyuuga nun realisiert.
Also blickte sie Junko in die Augen und sagte:„Ja, echte Herzensbrecher.“ Ein Lächeln war nicht dabei und Itoe verwettete ihren Knackarsch darauf, dass die Chuunin sah, dass Itoe sie nicht einfach so ziehen lassen würde. Ja, soviel konnte man der Chuunin noch zutrauen.
Was Itoe zu ihrer Erklärung bezüglich Yuto dachte? Nun, das Mädchen hielt es zumindest für eine Halbwahrheit. Denn nach wie vor war sie der Meinung: Niemand ist einfach so mal eben so zärtlich. Itoe erwischte sich dabei wie sie wieder diesen Gedanken durchspielte und verbannte ihn ganz weit nach hinten. Später. Einfach nur später.
Etwas erleichtert, etwas … ausgesprochener, ließ Itoe ihren Blick (endlich) mal wieder durch die Umgebung fliegen. Was sah sie? Einen langhaarigen Kerl der in Henge und Frauenkleidern samt Shiroprotektor auf sie zusauste. War das ein Scherz? Wohl kaum. Nun, vielleicht gab es ja Verstärkung. Oder aber eine Falle? Itoe besah sich besagten Kerl näher und hatte das Gefühl, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben. Dennoch, kein Risiko eingehen.
„Es nähert sich jemand, trägt einen Stirnschutz aus Shirogakure.“Ach, da war doch noch etwas. Eine einzige Frage. Beinahe rhetorisch, aber dennoch wichtig und jetzt plötzlich doch fast noch überraschend.
„Ich kann dir vertrauen?“ Allein der Satzbau, der einer Aussage glich und sich lediglich durch die Tonlage zu einer Frage entwickelte, ließ auf die rhetorische Natur schließen. Dennoch, wie gesagt, wichtig.
„Hey! Wir kriegen Besuch!“, rief Itoe anschließend noch in den Wald hinein – der Befehl für Hiroshi und Kayros wieder auf der Bildfläche zu erscheinen. Die Begrüßung durfte Junko nun übernehmen, auch wenn sich Itoe einen kleinen Kommentar nicht verkneifen konnte – hey, sie warauch noch etwas durch den Wind.
„Ernsthaft?“ Tja, wenn unser Hideki bisher nicht wusste, dass eine Hyuuga im Team war, dann erkannte er das Mädchen spätestens jetzt am leicht verächtlichen Kopfschütteln.
Ja. Haha, guter Witz. Junko war schon immer ein Witzbold gewesen, nicht wahr? Tun wir den Spruch mal dahin und hoffen einfach, dass die Hyuuga in Zukunft anderweitig beschäftigt war, als diese Angelegenheit noch einmal aufzukochen. Unwahrscheinlich, aber die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt. Für Junko war die Angelegenheit erstmal erledigt – bis sie das nächste Mal auf dem Schlachtfeld wieder einem Kiri-Nin gegenüberstand und diesen dann mit etwas mehr Passion töten oder eben leben lassen wollte, als es gesund war. Aber ob sie sich dadurch von ihren Pflichten abhalten lassen würde? Sie hatte es nicht vor. Somit war die Vertrauensfrage recht einfach zu beantworten.
„Du? Immer.“ Dazu war die Kunoichi viel zu sehr Lokalpatriot, als dass sie sich dazu hinreißen lassen würde, aktiv gegen ihre eigenen Leute vorzugehen. Das war etwas, was Yuto nicht von sich behaupten konnte. Wollte jemand noch weitere Beweise?
Langsam kehrten die beiden Damen wieder zum Rest des Teams zurück, während Itoe anmerkte, dass ein weiterer Shiro-Nin auf dem Weg hierher sei.
„Ja, auf den warte ich schon eine Weile. Das ist der zweite Jounin, der dieser Mission zugeteilt wurde … ich frage mich, was ihn aufgehalten hat.“ Hideki war ein Jounin, das hieß automatisch in Junkos kleiner Welt, dass er mindestens ein kleines Kind vor dem Ertrinken, ein Haus vor dem Abbrennen und eine Katze vor ewiger Höhenangst gerettet hatte, bevor er zu einer S-Rang-Mission zu spät aufkreuzte. Demzufolge sah sie seiner Ankunft mit Gelassenheit entgegen …
… bis er dann auftauchte. In Frauenklamotten. Das war zuviel für das arme Nervenkostüm der Konoha-Chuunin. Sie sah sich Hideki an, sah sein Auftreten, erinnerte sich an die Informationen, die sie über ihn erhalten hatte, verbarg dann das Gesicht in den Händen und fing an, herzzerreißend zu schluchzen. Sie hatte im vorangegangenen Gespräch nah am Wasser gebaut gewesen, hatte jedoch nicht geweint. Aber dieser Auftritt gab ihr gerade den Rest … alles an Traurigkeit schwappte hoch und entlud sich in Tränen, die über das Gesicht rannen. Itoe hatte Junko kaputtgemacht, Hideki hatte sie zum Weinen gebracht … letzteres auch noch vor Publikum, namentlich Hiroshi und Kayros. Denkwürdiger Tag.