Na herrlich, jetzt standen sie also hier vorne, hatten beide herzlich wenig Plan und sahen sich mit einem Hauch von Verzweiflung in den Augen an. Um sie herum war es erschreckend still geworden, sodass man jedes Fußschaben, jedes Stuhlrücken und jede noch so kleine Bewegung hören konnte. Zumindest tat Lya das. Und Pain tat es ebenso, denn seine Ohren zuckten unruhig und er hatte längst den Kopf gehoben, um sich umzusehen. Als Junichiro dann antwortete, vergrub der Hund den Kopf zwischen den großen, schwarzen Pranken. Lya hätte es ihm vermutlich gleich getan, wäre es nicht sie gewesen, die in der etwas verzwickten Situation steckte. Unwohl fühlte sie sich nicht, dazu war ihr Selbstbewusstsein zu groß und die Spitze Tenchiros zu klein. Als Junichiro sie ansah, blieb Lya einen Augenblick an seinen Augen hängen, anstatt weg zu sehen. „Schwarz“, stellte sie gedanklich fest. Einige Wimpernschläge verharrte sie an seinen schwarzen Augen, ehe sie sich abwandte und nachdachte. Links neben ihr schnippte unterdessen eine Schülerin unentwegt mit dem Finger – und das in einem wahnsinnigen Tempo. Dazu kippelte sie regelmäßig mit ihrem Stuhl vor und zurück, sodass Lya sich fragte, wann sie wohl umkippen würde mit dem Ding. Das Mädchen war ihr krasser Gegensatz – laut und nervig, gut, aber flach wie ein Brett, mit bravem Faltenrock und weißer Rüschenbluse, schwarzen Lackschuhen und einer rosa Schleife im braunen, kurzen Haar. Und: Sie lenkte ab. Mittlerweile verlief das Ganze für Lya in Zeitlupe. Das Kippeln verzögerte sich, der Finger schnippte langsamer und sie drehte sich im Gegensatz dazu mit Lichtgeschwindigkeit herum. „Gib Ruhe!“, befahl Lya und in ihrer Stimme schwang die seltsame Autorität einer Erwachsenen mit, die sie eigentlich gar nicht besitzen dürfte. Augenblicklich verstummte das Kippeln, das Schnippen verebbte, der Finger wurde langsam herunter gelassen und in den klaren, braunen Augen des Mädchens spiegelte sich das blanke Entsetzen wider. Wenn Lya und Pain durch die Straßen zogen, hatte man Angst. Nicht vor ihren Fähigkeiten, denn diese waren bei weitem nicht so gigantisch, wie das Duo es sich wünschen würde, sondern vor ihrer Erscheinung. Genauso war es in der Akademie. Vor Pain hatte man Angst, das war eine Tatsache, doch Lya war lediglich ein wenig furchteinflößend, einfach aus dem schlichten Grund, weil sie anders war. Anders als der Rest. Doch wenn sie begann zu sprechen, andere an die Wand zu reden oder auf hohem Niveau fertig zu machen – oder aber sie lediglich zu ermahnen – dann hatten vor allem Leute, die am Ende der Nahrungskette standen, einfach nur Angst. Diese Reaktion hatte Lya nie verstanden, aber sie musste sie auch nicht verstehen, um sie zu ihrem Vorteil zu nutzen. Und sie nutzte sie. Wenn sie auch nicht damit um sich warf, denn das hätte es zum Alltag gemacht. Worte, hatte ihr Vater sie gelehrt, waren eine Waffe, die sich nicht abnutzte, die nicht zerbrach, die gefährlicher war, als es jedes Katana je sein konnte.
Lya wandte sich langsam wieder nach vorne, die Kleine war nun ruhig und Lya konnte sich wieder konzentrieren. Ihr Gehör war zu empfindlich, als dass sie diese Unruhe weiter über sich hätte ergehen lassen können. Jedes Schnippen hatte so weh getan, wie ein Schnippen direkt auf ihrem Trommelfell. Schmerzhaft. Nein, eher unangenehm. Tenchiro hatte den Unterricht wieder aufgenommen. Seine Stimme drang dumpf zu Lya hindurch, während sie über Junichiros Augen nachdachte. Sie hatten Trauer ausgestrahlt und eine gewisse Mürbe. Nicht das Ende seiner Kräfte, an dem er angelangt war, dafür war er noch zu jung, sondern ein gewisser Grad von Erschöpfung. An der Welt, am Leben – zugegeben, auch Lya fielen viele Gründe einen, weshalb er diese Gefühle ausstrahlte. Aber gleich so krass?
Lya hob eine Augenbraue, sowohl auf Tenchiros Spitze in ihre Richtung, wie auch die Erkenntnis, dass Junichiros Augen sehr interessant waren. Ein Grund, weshalb sie keinen Grund dafür gesehen hatte, verlegen zur Seite zu sehen, wie es die letzte Reihe (Nagellack-Front) wohl getan hätte. Die kichernden Mädchen, die allesamt wohl eine eher minderwertige Ninjakarriere vor sich haben würden, denn wenn ihnen im Kampf einer der geliebten Fingernägel abbräche, was sollten sie tun? Ein Nagelerneuerungsjutsu erfinden? Lya hatte nicht jedes einzelne Wort Tenchiros verstanden, doch hatte sie den beiden Recht gegeben. Also war ihre Antwort doch nicht ganz so mies gewesen, immerhin etwas. Mittlerweile fragte sie sich allerdings, ob der werte Herr eine zwiegespaltene Persönlichkeit hatte. So wie sie es auffasste, dachte er, sie wollte ihn reizen, obwohl das gar nicht ihre Absicht gewesen war. Es war ihre Natur, das Vorwitzige, oder „Rotzfreche“, wie Tenchiro es nennen würde, lag einfach in ihrem Charakter und hatte sich über die Jahre hinweg derart gefestigt, dass es auch dort bleiben würde.
Wie eine Erlösung befahl er den beiden sich wieder hinzusetzen. Eine Tatsache die Lya mit Gelassenheit nahm. Sie drehte sich um und setzte sich wieder auf ihren Platz. Andere hätten die Blicke ihrer starrenden Mitschüler gemieden und auf den Boden oder gegen die Wand geschaut, weil sie nicht im Stande waren gut zwanzig Paar Augen etwas entgegen zu setze. Lya nahm die Herausforderung gerne an und erwiderte die Blicke auf die gleiche, missachtende Art, wie sie es taten. Dann setzte sie sich seufzend wieder auf ihren Stuhl und schlug die Beine übereinander, während sie sich wieder ihren Block widmete. Mit einem Bleistift begann sie Pain zu skizzieren, während sie aufmerksam Tenchiros nächster Frage lauschte. Ihr linker Finger wanderte in die Luft, während sie weiter skizzierte und ohne den Blick von ihrem Blatt abzuwenden, beantwortete sie seine Frage. „Feinde aufhalten. Beispielsweise auf längeren Reisen, wenn es gilt Verfolger abzuwimmeln, ohne Mann gegen Mann gegen sie zu kämpfen. Oder aber man präpariert einen Geländeabschnitt mit Fallen, wenn man weiß, dass dort ein Kampf stattfinden wird… es gibt jede Menge Möglichkeiten Fallen einzusetzen… Ganz primitiv kann man auch jemanden damit einfangen – wobei die meisten Ninja auf derart flache Tricks nicht hineinfallen“, gab sie zu denken und beendete ihre Ausführen, während sie Pains Fell skizzierte und dabei das Vorbild nicht einmal ansehen musste, um es perfekt abzuzeichnen. Eben jenes hatte den Kopf mittlerweile zwischen den Pfoten hervor geholt und beobachtete nun wieder Junichiro. Sein wachsamer Blick wirkte einschüchternd, doch Lya bezweifelte, dass der Neue sich davon beeindrucken ließ. Erst wenn Pain auf ihn losging würde er wohl die Flucht ergreifen…